Stillstand: Russische Träume in Trümmern

Stillstand Russische Traeume Truemmern
Stillstand Russische Traeume Truemmern(c) EPA (Iliya Pitalev)
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Die Machthaber wissen es nur zu genau. Und auch das Volk spürt es längst. Das jetzige Regierungs- und Gesellschaftsmodell hält nicht mehr, was es versprochen hat. Wohin also geht Russland?

Wer sich als Ausländer dazu versteigt, die Verhältnisse in Russland zu kritisieren, muss damit rechnen, selbst im aufgeklärtesten Teil der Gesellschaft gemaßregelt zu werden. Wenn schon jemand auf die Zustände schimpfen dürfe, dann nur die Russen selbst, sagen sie. Und sie tun es wohlgemerkt, was das Zeug hält. Als einer der größten Schimpfer hat sich Präsident Dmitrij Medwedjew selbst entpuppt. Erst dieser Tage ist ihm wieder einmal die Galle übergelaufen. In der Pazifikstadt Wladiwostok.

Diesmal traf es die Beamten des Verteidigungsministeriums, die die vereinbarte Übergabe ihrer Grundstücke für die Bauarbeiten zum Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgipfel 2012 blockieren. „Wohin man auch spuckt, in Wladiwostok sind überall Grundstücke des Verteidigungsministeriums“, donnerte Medwedjew. „Es reicht, dass ihr darauf sitzt. Selbst bringt ihr nichts weiter und andere blockiert ihr auch.“ Sollte irgendjemand krumme Geschäfte mit den Grundstücken machen, lande er hinter Gittern: „Dieser Sauhaufen muss ein Ende haben.“

Sauhaufen, Blockade, Stillstand. Indirekt kritisiert Medwedjew damit auch seinen Mentor und Premier Wladimir Putin, der zuletzt häufig Kritik abbekommt, ohne freilich beim Namen genannt zu werden. Und Medwedjew legt auch den eigenen Mangel an Gestaltungskraft offen. Beide hatten sie ein funktionierendes Russland in Aussicht gestellt. Vor allem der junge Kremlchef hatte schon 2009 im berühmten Brief „Russland, voran!“ mit den bremsenden Kräften abgerechnet, die Überwindung des Rechtsnihilismus und einen Zivilisationsschub verheißen. Zwei Jahre später muss er mit Absichtserklärungen die schwache Leistungsbilanz kaschieren. Ebenso wie sein Tandempartner. Seit elf Jahren räumt Putin ja verbal lautstark, aber völlig erfolglos mit Missständen wie der Korruption auf. Und nun kündigte er für die Zeit nach der Präsidentenwahl 2012, wo er vielleicht wieder antritt, abermals an: „Ich werde aufräumen.“


Viele wollen auswandern. Zukunft, die als strahlend gezeichnet wird, steht eine matte Gegenwart gegenüber. Sauhaufen, Blockade, Stillstand. Wer im Volk solche Worte der Führung hört, fühlt sich in den eigenen Erfahrungen bestätigt. Diese zeigen, dass in dem Riesenreich mit seinen 143 Millionen Einwohnern etwas Grundlegendes nicht stimmt. Anders ist es nicht zu erklären, dass laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts VCIOM 22 Prozent der Befragten auswandern wollen. Damit folgen sie der Tendenz des Kapitals, von dem seit September 2010 mehr als 60 Milliarden Dollar abgeflossen sind. Und das trotz des hohen Ölpreises – soll heißen, die Petrodollars bleiben teils gar im Ausland hängen, jedenfalls aber schrecken Gelder wie ein scheues Reh vor einer Bindung an Russland in Form von Investitionen zurück.

Auch bei denen, die – noch – nicht abwandern, ist die Stimmung schlecht. Sie erinnere an die in der Weimarer Republik, heißt es in einer Studie der Moskauer Higher School of Economics. Auch wenn der Vergleich hinkt: Die Gemütslage ernüchtert. Alle Schichten, selbst die Teenager, würden einen Phantomschmerz wegen des Verlustes des Sowjetimperiums fühlen und seien von Xenophobie durchdrungen, ergab die Studie: Die Mehrheit sei paternalistisch und apolitisch gestimmt und wünsche sich einen starken Anführer.

Das autoritäre Syndrom entspringt auch dem Wunsch nach einem heilen Staat mit funktionierenden Institutionen. Nicht, dass man bereit wäre, dafür aktiv zu werden und wenigstens an Wahlen teilzunehmen. Die Masse sei Anhänger der „Partei des Protestdiwans“, ätzte neulich die Internetzeitung Gazeta.ru und bemühte Russlands literarischen Prototypen „Oblomov“, der an seiner enervierenden Lethargie zugrundegegangen war: Die Unzufriedenen würden auch heute hoffen, dass sich alles wie durch ein Wunder ohne eigenes Zutun verändere.


Korrumpierte Strukturen. Genau zu definieren, wohin die Reise gehen sollte, fällt dem einzelnen genauso schwer wie der Nation. Auch auszuformulieren, in welchen Status quo sich das Land unter Putin hineinmanövriert hat und worin jener Sauhaufen besteht, den Medwedjew im exemplarischen Fall Wladiwostok benannt hat, gelingt nur wenigen. Von einem „hyperkorrumpierten pseudostaatlichen Kapitalismus“ spricht Nikolaj Zlobin, Direktor des Russland-Programmes am Center for Defense Information in Washington. Es bestehe eine Allianz zwischen einem schwachen Staat und starken korrumpierten Clanstrukturen. „Die organisierte Kriminalität und das Chaos der Oligarchen der 90er-Jahre wurde von einer beamten-oligarchischen organisierten Kriminalität abgelöst, die den Staat zerdrückt und in der die Oligarchen die zweite Geige spielen“, meint er. Weil der Verwaltungsapparat nicht funktioniere, müssen die Staatschefs mittels Improvisationen lenken. Und weil die Clans auf Straffreiheit bauen könnten, würden sie sich gute Unternehmen massenhaft und gewaltsam unter den Nagel reißen. Laut einer Umfrage der UBS AG und Campden Media unter russischen Unternehmern sahen 2009 noch 84 Prozent Entwicklungsmöglichkeiten im Land; jetzt sind es nur noch 40 Prozent, 56 Prozent planen lieber Aktivitäten in Europa oder China.


Vertrauen fehlt. Die Verhältnisse haben mit der Wirtschaftskrise nur bedingt zu tun. Aber sie sind durch sie augenscheinlich geworden. Alles zusammen führt dazu, dass das Wirtschaftswachstum 2011 mit prognostizierten 4,5 Prozent trotz Übergangsökonomie nur wenig größer als in Deutschland oder Österreich ist. Der hohe Ölpreis reicht als Motor nicht mehr aus. Was fehlt, ist Vertrauen über den heutigen Tag hinaus. Und alsbald Klarheit darüber, wer mit welchem Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell das Land durch das dritte postsowjetische Jahrzehnt führen wird.

Auf diese Antworten hofft auch das politisch lethargische Volk. Denn auch die einfachen Bürger spüren die Zustände am eigenen Leib. Angesichts der Inflation, die heuer wieder neun Prozent erreichen dürfte, gingen die Reallöhne auch im ersten Quartal 2011 um knapp drei Prozent zurück. Das reicht, um den berühmten Gesellschaftsvertrag der Putin-Ära anzuzweifeln. „Politische Nichteinmischung und Loyalität gegen (wirtschaftliche) Stabilität“ hatte die Abmachung zwischen Establishment und Volk geheißen, nachdem die chaotische Dezentralisierung der 90er-Jahre den Ruf nach einer starken Hand hatte laut werden lassen. Der Effekt war klar: Statt einer demokratischen Gesellschaft hat sich eine Konsumgesellschaft entwickelt. Nun sieht vor allem die Mittelschicht, dass der Lebensstandard nicht mehr automatisch steigt. Und es einen neuen Vertrag braucht.


Verantwortung übernehmen. „Dezentralisierung gegen eine Verlängerung der Loyalität“ haben namhafte Experten kürzlich auf einem Forum in Perm eine Neuformulierung versucht. Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, mehr Kompetenzen in die Region. Aber auch mehr Verantwortung seitens der Unternehmer und der Gesellschaft. Das deckt sich mit Medwedjews jüngsten Aussagen.

Bleibt noch sicherzustellen, dass der Wechsel des Modells, so er stattfindet, friedlich vor sich geht. Denn die Nutznießer des jetzigen Modells werden nicht kampflos aufgeben. Oder wie es der renommierte Polittechnologe Gleb Pavlovski, bis vor Kurzem Kremlberater, bei einem Vortrag am Thinktank ICEUR in Wien erklärte: Man habe in der konfliktreichen Gesellschaft vor zehn Jahren eine Depolitisierung durchgeführt, damit sich in Ruhe eine Mittelklasse herausbilden konnte und Kinder heranwachsen können, die sich nicht mehr an die Sowjetunion erinnern. Und nun? „Die Kinder wachsen heran, aber wesentlich schneller vollzieht sich die Verschmelzung der Schattenwirtschaft mit der Bürokratie. Es tauchen Minister auf, die Milliardäre sind, und es kommt zu einer Monopolbildung – und das alles auf informeller Ebene.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2011)

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