Nachdem Litauen in den Jännertagen 1991 seine Unabhängigkeit erklärt hatte, ließ Moskau die Armee aufmarschieren. Und ein Begriff machte die Runde: Das Land habe eine „Blutnacht“ erlebt, einen „Blutsonntag“.
Wien. „Gorbatschow lässt in Litauen die Rote Armee wüten“ – so lautete die Schlagzeile auf dem Titelblatt der „Presse“ am Montag, den 14. Jänner 1991. Und ein Begriff machte die Runde: Litauen habe eine „Blutnacht“ erlebt, einen „Blutsonntag“.
Die Aktion war geplant, aber für den Westen kam sie unerwartet. Die Augen der Weltöffentlichkeit waren in den Jännertagen 1991 auf den Nahen Osten, auf den zweiten Krieg am Golf, gerichtet. Doch auch im Baltikum brodelte es, ein paar Monate zuvor hatten die Sowjetrepubliken Litauen und Lettland ihre Unabhängigkeit erklärt.
In der Nacht zum Sonntag rollten sowjetische Panzer aus ihrer Garnison in Richtung Vilnius. Gemeinsam mit den Scharfschützen der KGB-Einsatzgruppe „Alpha“ versuchten sie, den Fernsehturm und das Rundfunkzentrum einzunehmen. Vor dem Fernsehturm stellte sich ihnen eine Menschenmenge entgegen. Das Fernsehen hatte sich zuvor auf die Seite der „Sajudis“-Unabhängigkeitsbewegung von Vytautas Landsbergis gestellt; es übertrug live von den Auseinandersetzungen auf Vilnius' Straßen. Doch die friedliche Gegenwehr half nichts: Schützen feuerten in die Menge. Um 2.10 Uhr hatten die Truppen das Fernsehzentrum besetzt, die TV-Schirme wurden schwarz. 14Menschen starben, Hunderte wurden verletzt.
Gorbatschows Image angekratzt
Nach dem Massaker erkannte Island einen Monat später als erster westlicher Staat die Unabhängigkeit der drei baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen an; weitere Staaten sollten folgen.
Nicht zuletzt Michail Gorbatschows Ruf als Reformer war nach dem Truppeneinsatz international beschädigt. Litauen versucht bis heute, dem letzten Präsidenten der Sowjetunion den Prozess zu machen. Bisher freilich vergeblich.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19. Juli 2011)