Als "grausam, aber notwendig" bezeichnet der Attentäter im Verhör seine Taten. In einem 1500 Seiten langen Pamphlet fantasiert er über den "Krieg gegen den Kulturmarxismus".
Oslo/Wien. Er hätte sich selbst töten oder sich von der Polizei erschießen lassen können. So wie es die meisten Amokschützen tun. Nicht so Anders Behring Breivik. Er ergab sich ganz ruhig, als die Sicherheitskräfte eine Stunde nach Beginn des Massakers endlich auf die Insel Utøya vordrangen. Dorthin, wo Breivik zuvor 85 Kinder und Jugendliche erschossen hatte.
Der 32-Jährige war auch kein normaler Amokschütze, der eigene Tod für ihn offenbar keine Alternative. Denn er sieht den kommenden Gerichtsprozess wohl als Propagandaforum für seine Mission. Eine Mission, die er in einem 1500 langen Pamphlet penibel darlegte.
Unmittelbar vor den Anschlägen hat Breivik sein Manifest ins Internet gestellt. Er schrieb es auf Englisch unter dem Pseudonym Andrew Berwick. Als Erscheinungsort des Pamphlets gab er London, 2011, an und verlieh ihm den Titel „2083 – Eine Europäische Unabhängigkeitserklärung“.
Breivik entwickelt darin eine Strategie für den Krieg gegen den „Kulturmarxismus“ und „Multikulturalismus“, der seiner verschrobenen Ansicht nach 1999 begonnen hat, als der Westen Serbien gehindert habe, sich gegen die „muslimische Invasion“ im Kosovo zu wehren, und der 2083 mit dem Endsieg enden werde. 2083 ist wohl eine Anleihe an das Jahr 1683, in dem die Osmanen vor Wien zurückgeschlagen wurden.
Auf der ersten Seite des Konvoluts prangt das rote Kreuz des Templerordens. Die Tempelritter waren ein geistlicher Ritterorden, der im zwölften Jahrhundert im Zuge des ersten Kreuzzuges gegründet worden war.
Breivik sieht sich offenbar selbst als einen modernen „Ritter“, als Krieger gegen Muslime und seine anderen Feinde. Er entwarf in seinem Manifest eigene prunkvolle Uniformen, die mit dem roten Kreuz der Tempelritter versehen sind. Im Internet-Pamphlet sind Bilder zu sehen, die ihn schwer bewaffnet und in den von ihm entworfenen Uniformen zeigen. Doch in seiner Wahnwelt sollte Breivik nicht der einzige Soldat für die „richtige Sache“ bleiben. Er fantasierte über den Aufbau einer ganzen Armee, analysierte internationale Streitkräfte und Geheimdienste und schrieb Abhandlungen über Bewaffnung und Schutzausrüstung von Infanteristen.
Hier dürfte sich seine Vorstellung von Realität mit einer Fantasy-Welt, einer virtuellen Welt der Videospiele vermischt haben – der Welt, in der er tagelang Games wie „World of Warcraft“ spielen konnte. Doch selbst bei diesen Fantastereien blieb er stets penibel und auf seine Weise rational, versuchte, seinem Manifest den Anstrich einer wissenschaftlichen Arbeit zu verleihen und alles mit Pseudofakten und Zahlen zu belegen. Und angebliche Daten sammelte er darin zu allem Möglichen: vom „multikulturellen Indoktrinierungsgrad“ in verschiedenen Ländern bis zu Anleitungen darüber, wie man Landwirtschaft betreibt.
Anschläge waren lange geplant
Er träumt von „Gesellschaftsumsturz durch Revolution“, bei dem Westeuropas „multikulturelle Regime“ vor einem Coup einer „nationalen Widerstandsbewegung“ kapitulieren müssen. Wenn die „patriotische Führung“ einer kleinen nationalbewussten Elite etabliert sei, sollten alle Muslime deportiert oder, wenn sie sich weigerten, hingerichtet werden. Auch ein Tagebuch findet sich in seinem Manifest. Darin beschreibt er minuziös, wie er den Bau der Bomben vorbereitete und ausführte, immer wieder gestört durch neugierige Nachbarn im Hof nördlich von Oslo, in dem er die Firma Geofarm registrierte, um den Kauf großer Mengen Kunstdünger zu rechtfertigen.
Seit mehr als neun Jahren habe er die Attacke vorbereitet, behauptet Breivik. Er war früher Mitglied der rechten Fortschrittspartei, war ein zeitweise aggressiver Blogger auf antimuslimischen Websites. Er gab sich nach außen hin aber auch als hilfsbereiter Mitarbeiter auf multikulturellen Arbeitsplätzen – stets freundlich, damit niemand erkennen sollte, dass in ihm ein brandgefährlicher Attentäter schlummerte.
Geständnis des Attentäters
Er habe die „faktischen Verhältnisse“ gestanden, sowohl zum Anschlag in Oslo wie auf Utøya, Strafschuld aber nicht, sagte sein sichtlich geplagter Verteidiger Geir Lippstad. „Grausam, aber notwendig“ seien seine Aktionen gewesen, um den Staat zu erschüttern, behauptete der Täter. Er habe keine Helfer gehabt, doch am Sonntag nahm die Polizei sechs Männer „in Zusammenhang mit den Ereignissen vom Freitag“ fest. Kurz darauf wurden aber alle Verhafteten wieder freigelassen.
Breivik fantasierte auch über Orden, die er als „wahrer europäischer Held“ und „Retter des Christentums“ erhalten werde: je höherrangig der Feind, den er tötet, desto höher die Auszeichnung. Am Montag will sich Breivik beim Hafttermin ausführlicher äußern. Ob er auch sagen wird, welchen Orden es in seiner Wahnwelt für den Mord an 85 Kindern und Jugendlichen gibt?
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.07.2011)