Wegen eines Konflikts mit Premier Recep Tayyip Erdoğan treten die wichtigsten Kommandanten der türkischen Armee zurück. Die Regierung zeigt sich unbeeindruckt.
Die Türkei steht nach der überraschenden Demission der gesamten Militärspitze unter Schock, während sich Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan und seine islamisch-konservative Regierung demonstrativ unbeeindruckt geben. Die vier ranghöchsten Befehlshaber der zweitgrößten Nato-Armee waren am Freitagabend kollektiv zurückgetreten: Generalstabschef Işık Koşaner, der Kommandant der Landstreitkräfte, Erdal Ceylanoglu, Marinechef Esref Ugur Yigit und Luftwaffenchef Hasan Aksay protestierten damit gegen die Inhaftierung von rund 250 Offizieren, denen Verschwörung gegen Erdoğans Regierung zur Last gelegt wird.
Staatspräsident Abdullah Gül als oberster Befehlshaber der Streitkräfte konferierte in der Nacht auf Samstag in Ankara mit Erdoğan und Gendarmerie-Chef General Necdet Özel, der zum interimistischen Generalstabschef und Heereskommandanten ernannt wurde.
Der zurückgetretene Generalstabschef Koşaner war erst vor einem Jahr auf seinen Posten berufen worden. Er unterstrich in einer Abschiedserklärung an die "Waffenbrüder", dass es ihm nicht länger möglich sei, sein Amt auszuüben, denn er sei nicht imstande, die Rechte jener Männer zu verteidigen, die als Folge eines "fehlerhaften Rechtsverfahrens" inhaftiert seien.
Ministerpräsident gegen Militärs
Die von Erdoğans AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) initiierte Volksabstimmung über eine weitreichende Verfassungsreform hatte der Justiz die Mittel in die Hand gegeben, auch gegen die Putsch-Verantwortlichen von 1980 mit Ex-Präsident General Kenan Evren an der Spitze vorzugehen. Das mächtige türkische Militär versteht sich als Hüter des säkularen Vermächtnisses von Staatsgründer Kemal Atatürk und hatte 1960, 1971, 1980 und 1997 in die Politik eingegriffen und zweimal - 1960 unter General Cemal Gürsel und 1980 unter General Evren - direkt die Macht übernommen. 1997 hatte die Armee den Rücktritt des religiös orientierten Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan erzwungen, der mit politischem Betätigungsverbot belegt wurde. Erbakans Wohlfahrtspartei war eine Vorläuferin von Erdoğans AKP. Noch 2007 gab es Versuche des Militärs, die Wahl des AKP-Kandidaten Gül zum Staatsoberhaupt zu vereiteln.
Erdoğan war es nach seiner Regierungsübernahme 2002/03 mit einer Reihe von Reformen gelungen, der Dominanz des Militärs ein Ende zu setzen. Er begründete sein Vorgehen unter anderem damit, die Chancen für einen Beitritt des Landes zur Europäischen Union zu verbessern. Der mit umfangreichen Vollmachten ausgestattete Nationale Sicherheitsrat verlor seine Kontrollfunktion als oberstes Organ in Fragen der inneren und äußeren Sicherheit. In diesem Gremium, dem sich die Regierung unterzuordnen hatte, spielte die Militärführung ihre Rolle als Wächterin der kemalistischen Grundprinzipien der Trennung von Staat und Religion.
Mittlerweile befinden sich mehr als vierzig aktive Generäle in Haft, fast ein Zehntel der türkischen Befehlshaber. Laut Medienberichten beantragte am Freitag ein Staatsanwalt, der einem weiteren angeblichen Armee-Komplott auf der Spur ist, die Festnahme von 22 Beschuldigten, darunter einem hochrangigen Befehlshaber.
(Ag.)