Libyen: Gaddafi, ein postmoderner Despot

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Im Laufe seiner fünf Jahrzehnte umspannenden Karriere hat Machthaber Muammar al-Gaddafi einen wilden Ritt durch das politische Spektrum absolviert. Bemerkenswert waren auch seine außenpolitischen Hakenschläge.

Wien. In der Kulturtheorie gilt die Postmoderne als Überbegriff für jene Konzeptionen, die das gleichberechtigte Nebeneinander von Elementen befürworten, die zu einem anderen Zeitpunkt als gänzlich inkompatibel gegolten hätten. Aus dieser Perspektive betrachtet, gleicht die Laufbahn von Muammar al-Gaddafi einer postmodernen Versuchsanordnung: Eine Vielzahl an Einflüssen (die Bandbreite reicht dabei von Panarabismus über Anarchismus, Sozialismus bis hin zum Islam) wurde von Libyens Langzeit-Despot unter das Dach eines Beduinenzelts gepfercht – mit einem oft ans Tragikomische grenzenden Ergebnis.

Während seiner fünf Jahrzehnte umspannenden Karriere absolvierte Gaddafi einen wilden Ritt durch das politische Spektrum. Angetreten ist er in den 1960er-Jahren als Anführer der von Ägyptens Machthaber Gamal Abdel Nasser inspirierten „Freien Offiziere“. Der 27-jährige Gaddafi löste am 1.September 1969 nach einem unblutigen Putsch König IdrisI. an der Spitze Libyens ab – und blieb dort bis zum Jahr 1979 als Staatschef und seither als „Bruder Revolutionsführer“ ohne Amt und Portfolio. Seit 2008 darf sich Gaddafi zusätzlich auch mit dem Titel „König der Könige von Afrika“ schmücken, den ihm rund 200 afrikanische Stammesführer verliehen haben.

Bemerkenswert waren auch seine außenpolitischen Hakenschläge: Der einstige Bannerträger des islamischen Sozialismus verwandelte sich in den 1980er-Jahren in den Hauptsponsor des internationalen Terrors und wurde schließlich nach der Jahrtausendwende zum Freund des Westens.

Erdöl als Machtbasis...

Der theoretische Überbau der Herrschaft Gaddafis mag zwar einem wild zusammengewürfelten Haufen ideologischer Versatzstücke gleichen, doch die faktische Macht ruhte stets auf einer soliden Basis: dem Erdöl. König Idris hinterließ seinem Nachfolger eine moderne, gut dotierte und ausgebaute Ölindustrie – „und Gaddafi hat stets darauf geschaut, dass sie reibungslos funktioniert, denn nur dank der Einnahmen aus dem Ölexport konnte er sich die Zustimmung der Bevölkerung erkaufen“, schrieb der britische Autor Daniel Kawczynski in seiner 2010 erschienenen Biografie „Seeking Gaddafi“. Von den ökonomischen Experimenten, die Gaddafi in Libyen durchführen ließ, war die Ölbranche stets ausgenommen. Und daher ist es auch kein Wunder, dass Experten die staatlichen Assets, die im Zuge des Bürgerkriegs eingefroren wurden, auf gigantische 200 Milliarden Euro schätzen.

Der innenpolitische Tauschhandel Geld gegen Zustimmung hatte auch einen angenehmen Nebeneffekt: Auf diese Weise konnte Gaddafi (frei nach dem Motto „Teile und herrsche“) die libyschen Stämme gegeneinander ausspielen. Zwar waren die wichtigsten Posten stets für die Angehörigen seines eigenen Stammes, der Gaddadfa, vorgesehen. Doch auch die anderen Cliquen wurden abwechselnd mit Geld und Privilegien bedacht. Damit hatte Gaddafi freie Hand, denn die traditionellen Machtstrukturen sind in Libyen gut erhalten – individuelle Teilhabe am politischen Geschehen abseits des althergebrachten Stammessystems hat keine Tradition.

...und Libyen als Familienbetrieb

Dass die Gaddafi-Sippe das Land als ein Art Familienunternehmen betrachtete, ist eine logische Konsequenz dieser Stammesstruktur. Als Handlanger des Revolutionsführers fungierten dabei seine Söhne: Al-Saadi und Khamis beim Militär, Mohammed an der Spitze der libyschen Post, Mutassim als Nationaler Sicherheitsberater sowie Saif al-Islam, das einstige liberale Aushängeschild Libyens, der mittlerweile vom Internationalen Strafgerichtshof gesucht wird.

Auch die Revolutionsgarden, eine Elitetruppe, deren 3000 Soldaten aus der Heimatregion des Gaddafi-Clans stammen, gelten als loyale Stütze. Und zu guter Letzt kann der Diktator auf seine weiblichen Leibwächter zählen – die 30 Kämpferinnen, die ein Keuschheitsgelübde abgelegt haben, sind auch unter dem Namen „Nonnen der Revolution“ bekannt. Was seinen Personenschutz anbelangt, zeigt sich Gaddafi wieder ganz von seiner postmodernen Seite.

Chronologie

1942 gilt als Gaddafis Geburtsjahr. Seine Eltern sind nomadisierende Bauern des Gaddadfa-Stammes in der Nähe der Stadt Sirte.

Am 1.September 1969 gelingt dem Berufssoldaten Gaddafi der unblutige Coup: An der Spitze der „Freien Offiziere“ stößt er König IdrisI. vom Thron.

1979 ruft er in Libyen die direkte Demokratie auf Basis von Revolutionskomitees aus, tritt als Staatsoberhaupt zurück und nimmt den Titel des „Revolutionsführers“ an.

In den 1980er-Jahren positioniert sich Gaddafi als Sponsor des internationalen Terrorismus. 1986 lässt US-Präsident Reagan Tripolis bombardieren. 1988 sterben beim Anschlag auf einen US-Passagierjet bei Lockerbie 270 Menschen.

Die UNO verhängt 1992 ein Handelsembargo gegen Libyen – Gaddafi weigert sich, die mutmaßlichen Lockerbie-Attentäter auszuliefern.

In den 2000er-Jahren verbessern sich die Beziehungen zum Westen erneut: 2003 gibt Gaddafi seine Massenvernichtungswaffen auf; 2004 folgt mit einem Besuch des britischen Premiers Blair der außenpolitische Durchbruch; 2009 bekleidet er das Amt des Vorsitzenden der Afrikanischen Union.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2011)

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