Der blutige Preis für Libyens Freiheit

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Libyens Hauptstadt Tripolis nach dem Fall von Gaddafi: Die Euphorie weicht Schock und Trauer. Es ist von Massenexekutionen und Folterungen die Rede. Rebellen und Gaddafi-Loyalisten beschuldigen sich gegenseitig.

Drei Tage lang lag die Leiche im Wasser. Leicht hin und her baumelnd mit den Wellen des Mittelmeeres am Strand der Corniche von Tripoli. Ein Mann mit Militärstiefeln und Soldatenuniform, der Rebell als auch Gaddafi-Soldat gewesen sein könnte. Das Gesicht aufgedunsen, dunkle Flecken auf den weit ausgestreckten Armen. Die Haut blätterte bereits überall ab. Irgendjemand hatte ihm ein weißes Tuch übergelegt, das mittlerweile tiefbraune Blutflecken in Bauchgegend und Brust hatte. Fast ein friedliches Bild des Todes, im Vergleich zu anderen Orten der libyschen Hauptstadt.
Die Rede ist von Massenexekutionen und Folterungen von hunderten Menschen, die Tag für Tag mehr bekannt werden. Rebellen und Gaddafi-Loyalisten beschuldigen sich gegenseitig dieser Gräueltaten.

Verzweifelter Kampf. Nach Abu Salim sind es keine zehn Fahrminuten. In dem im Süden von Tripolis gelegenen Stadtteil haben sich Gaddafi-Anhänger verschanzt und kämpfen ihren letzten verzweifelten Kampf. Schwere Waffen haben sie nicht mehr. Keine Artillerie, und auch Grad-Raketen, die sie monatelang zu vielen Tausenden gegen Rebellen und deren Städte eingesetzt haben, scheinen ihn ausgegangen zu sein. Sie vertrauen auf Scharfschützen, die mit Dragunow-Gewehren aus russischer Fabrikation ausgerüstet sind. Eine perfide Waffe mit einer Reichweite bis zu 1300 Metern, die verheerende Wunden in Kopf und Körper reißt. Es ist sehr schwierig, gut postierte Schützen außer Gefecht zu setzen. Die Rebellen nehmen schwere Verluste hin und können sich nur Straße um Straße weiterkämpfen.
Bevor der Fahrer in die Straße nach Abu Salim einbiegt, schließt er alle Fenster. „Es stinkt hier so, wegen der Toten“, sagt er und hält sich unmissverständlich die Nase zu. „Viele Tote“, fügt er hinzu. Links und rechts am Straßenrand liegen verbrannte Autowracks. Wagen, die noch halbwegs intakt scheinen, sind zerschossen, die Türen stehen weit offen. Im Vorbeifahren glaubt man, einige in sich zusammengesackte Gestalten zu erkennen. Nach wenigen Minuten erreicht man eine Verkehrsinsel. Dort liegen rund 20 Tote, die man mittlerweile zugedeckt hat. Auch in der weiteren Umgebung liegen weitere Leichen verteilt auf dem Asphalt. Ob es  Gaddafi-Soldaten oder Rebellen sind, ist nicht auszumachen.
Von hier aus will der Fahrer nicht mehr weiter nach Abu Salim hineinfahren. „Viel zu gefährlich“, meint er. „Da kann man leicht erschossen werden.“ Für ihn sind die Bewohner von Abu Salim schlechte Menschen, da sie auf der Seite von Gaddafi standen. „Die Kämpfer sind alle jung und nehmen Pillen“, fügt er an, als ob er deutlich machen wolle, dass man entweder verrückt oder eben auf Drogen sein muss, wenn man weiter für den libyschen Diktator kämpft.

Gaddafi-Loyalisten exekutiert. In anderen Stadtteilen Tripolis hatte man ebenfalls Tote gefunden. Darunter 30 Gaddafi-Soldaten, deren Körper von unzähligen Kugeln durchsiebt waren. Zwei von ihnen waren mit Plastikhandschellen gefesselt, wovon einer noch auf einer Krankenwagentrage lag und eine Kanüle für eine intravenöse Infusion im Arm hatte. Bei den Soldaten hatte man grüne Mützen und Flaggen, sowie Poster von Gaddafi gefunden.
In Bab al-Azizia, dem ehemaligen Gelände des „großen libyschen Führers“, entdeckte man 17 Leichen. Angeblich Zivilisten, die von Getreuen Gaddafis hingerichtet worden waren. In Bab al-Azizia hatte es in den letzten Tagen immer wieder schwere Gefechte gegeben, selbst nachdem die Rebellen das riesige Areal gestürmt hatten. „Die 17 Leichen wurden in einem Lastwagen gebracht“, erzählt Kirsty Campbell vom International Medical Corps, einer NGO, die im Krankenhaus von Tripolis überprüft, welche Medikamente und medizinischen Geräte geliefert werden müssen. „Sie sind schon vor zehn Tagen verhaftet und dann exekutiert worden.“ Ihre Wunden seien ganz sicher keine Kampfverletzungen, versichert Campbell und fügt noch hinzu, dass es mehr Berichte über weitere Leichen dieser Art gebe. Im Zentralkrankenhaus in der Zawiyah-Straße herrscht immer noch Hochbetrieb, obwohl die Zeit der großen Auseinandersetzungen vorbei ist. Durch die Gänge schleppen sich blutende Männer, von Begleitern gestützt, in die Notaufnahme.
Keiner kennt die Zahl der Opfer. Am Empfang weiß niemand, wie viele Leute eingeliefert wurden, obwohl man in großen Ordnern die Patienten registrieren soll. „Das wird oft später gemacht“, erklärt ein Arzt im Vorbeigehen. „100 bis 150“ sind es täglich“, versichert wenige später Dr. Imad Mohammed. „Der größte Teil davon sind Schusswunden von Scharfschützen.“ Tote gebe es nicht mehr so viele. „Bis heute Mittag sollen es insgesamt vier gewesen sein.“ In den drei Tagen nach dem Sturm der Rebellen von Tripolis (20. bis 22. August) gab es allein täglich mindestens 100 Tote. „Die meisten davon Zivilisten“, erzählt Amal Hamed. „Darunter Frauen und Kinder, die in ihren Wohnungen von Scharfschützen getroffen worden waren.“ Viele könnten nicht mehr gerettet werden, sagt die junge Ärztin, „es fehlt uns an der nötigen Ausrüstung“.
Der Arbeitsplatz von Gaddafis Tochter. Im Zentralkrankenhaus von Tripolis soll auch Hanna Gaddafi, die Tochter des Diktators, gearbeitet haben. Eine Frau, die eigentlich nicht mehr am Leben sein dürfte. 1986 war sie offiziell bei einem US-Luftangriff auf Bab al-Azizia ums Leben gekommen. Ihre Schwester Aisha hatte noch im Mai bei einer öffentlichen Rede vor tausenden Gaddafi-Anhängern den Tod von Hanna beklagt. „Mitten in der Nacht bin ich durch die Bomben weinend aufgewacht – und neben mir lag Hanna blutend und tot.“
Mohammed, ein junger Medizinstudent, der seit fünf Jahren im Zentralkrankenhaus immer wieder arbeitet, führt lachend in einen anderen Flügel des Gebäudes. „Natürlich hat Hanna hier gearbeitet. Ihr Tod ist eine Erfindung. Ich zeige ihnen ihr Luxusbüro, von dem ich erst vor drei Tagen erfahren habe, als man es öffnete.“ Er habe die Räumlichkeiten gleich wieder erkannt. „Ich kannte das aus dem Fernsehen. Hier spielte Gaddafi Schach mit dem russischen Gesandten.“
Anfang Juni waren Bilder um die Welt gegangen, die die Partei Gaddafis mit Kirsan Iljumschinow, einem exzentrischen Multimillionär, zeigten, den man als Vermittler nach Tripolis geschickt hatte. Das Büro, das jenes von Hanna Gaddafi gewesen sein soll, umfasst zwei Räume, von denen einer eingerichtet ist: mit monströsen cremefarbenen Sofas, einem Glastisch, einem halbrunden Mahagonischreibtisch und einem übergroßen Plasma-TV-Bildschirm. Im Bad eine Jacuzzi-Kabine, die ein Rebell bereitwillig vorführt. „Hier hat sich Gaddafi ausgeruht, während er uns Libyer ermorden ließ“, ruft er aufgebracht. Seit Sonntag nutzen die Ärzte das angebliche ehemalige Gaddafi-Büro als Aufenthalts- und Schlafraum. Ein ungekannter Luxus für sie, den ihre normalen Quartiere gleichen einer Abstellkammer.
„Auch ich habe das Sofa und den Glastisch sofort wiedererkannt“, versichert Dr. Waleed Solahi, der gerade geschlafen hat. „Gaddafi spielte hier nicht nur Schach, er kam oft hierher, und das wurde im Fernsehen übertragen.“ Niemand habe allerdings davon gewusst. „Ich habe keine Idee, wie er hier hereinkommen und verschwinden konnte, ohne von jemand gesehen zu werden.“ 

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