Im „Studienzentrum des Grünen Buchs“, in dem Ideologie-Exegese der „Gaddafi-Bibel“ betrieben wurde, liegt alles durcheinander, von Gaddafis „universeller Theorie“ eines „islamischen Sozialismus“ bleibt nichts übrig.
Tripolis. Was bleibt von Gaddafi, von seinen Ideen, vom berühmt-berüchtigten „Grünen Buch“, in dem der libysche Diktator seine Gedanken präsentiert hat? Nicht viel. Es sei ein fruchtbares, vollkommen verrücktes Werk, erklärt Herr Mrayed, der mit seinen 65 Jahren schon in Pension sein könnte, aber noch als Büromanager einer kanadisch-australischen Firma arbeitet.
Das 1975 veröffentlichte „Grüne Buch“ ist ein dreiteiliges Werk Gaddafis, mit dem er der Mao-Bibel nacheifern wollte. Es versprach als „universelle Theorie“, die „Lösung aller ökonomischen und sozialen Probleme“. Im Ausland wurde danach von einem islamischen Sozialismus gesprochen. „Das ist doch alles Quatsch“, erwidert Mrayed. Der libysche Staat sei nicht islamischer wie andere arabische Länder, in denen der Islam in der Verfassung steht. „Und das ,Grüne Buch‘ stiftete nur Chaos.“ Privateigentum sei sozialisiert worden. Arbeitslöhne seien nach zwölf Klassen ausbezahlt worden. „Ein Minister verdiente 450 Dinar (225 Euro) und ein Arbeiter in der niedrigsten Stufe bekam 30 Euro. Und wenn nach sechs oder sieben Jahren erhöht wurde, dann um 50 Cent oder einen Euro.“ Ein Lohnsystem, das epidemische Korruption kreierte.
„Die Möbel in Gaddafi-Grün“
Das Forschungs- und Studienzentrum des „Grünen Buchs“ steht noch. Zwischen Radio Tripolis und einem Mütter-und-Kind-Heim, von denen Nato-Bomben Trümmerberge zurückließen. Wie in anderen ehemaligen Amtsgebäuden des Regimes ist alles drunter und drüber. Die Tische in der Bibliothek sind in Gaddafi-Grün gehalten und bieten Platz für 46 Studienplätze. Die Computer sind verschwunden, nur einige Verbindungskabel sind noch da, das „Grüne Buch“ wird im zukünftigen Libyen wohl keine Leser mehr finden.
Ein neuer Anfang
„Die Revolution ist ein neuer Anfang“, sagt Mrayed. „Wir werden der demokratischste Staat aller arabischen Länder werden. Ein Musterbeispiel.“ Eine Vorstellung vom neuen Libyen geben die Richtlinien des Nationalen Übergangsrats (NTC) für die Nachkriegszeit. Das demokratische System soll auf Parteienpluralismus und Parlament beruhen. Islam wird Staatsreligion, die Scharia, das islamische Rechtssystem, soll Gesetzesgrundlage werden. Als Allererstes müsse es eine „Erklärung der Befreiung“ geben. Danach soll eine „Öffentliche Nationale Versammlung“ folgen. Sie fungiert als Übergangsregierung und ernennt ein Gremium, das eine neue Verfassung erarbeitet. Klingt gut, aber alles hängt noch in der Luft: Der Fahrplan in die Demokratie ist ohne „Erklärung der Befreiung“ nicht möglich. Und diese ist wiederum, wie NTC-Vorsitzender Abdel Mustafa Jalil bestätigte, von der Verhaftung oder dem Tod Gaddafis abhängig. Sein Regime ist gefallen, aber der Diktator beeinflusst indirekt noch die Geschicke Libyens. Seine Söhne, Seif und Saadi, versuchten, sich in die Zukunft Libyens einzumischen. Seif drohte via TV, er werde den Grünen Platz zurückerobern. Saadi behauptete dagegen auf dem Nachrichtenkanal Al-Arabia: Er wolle vermitteln und das Blutvergießen beenden. „Ach, das sind die letzten, verzweifelten Zuckungen der Gaddafis“, kommentiert Bauingenieur Mrayed und nimmt einen Schluck Kaffee. „Widersprüchlicher könnten sie nicht sein. Sie sind am Ende.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.09.2011)