Gati: „Ungarn ist eine gelenkte Demokratie“

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Der US-Politologe Charles Gati geht mit Viktor Orbán hart ins Gericht und wirft ihm die Missachtung demokratischer Spielregeln vor: Der ungarische Premier wolle die Macht seiner Partei Fidesz zementieren.

Die Presse: Herr Professor, in einem im April in der Tageszeitung „Népszabadság“ veröffentlichten Gastbeitrag haben Sie Viktor Orbán als international vereinsamt bezeichnet. Ist der ungarische Regierungschef heute immer noch so einsam wie vor einem halben Jahr?

Charles Gati: Er ist noch einsamer. Damals ging es um die Änderung des Mediengesetzes, die Proteste ausgelöst hatte. Seither sind weitere Themen aufgetaucht, die diese Isolation verstärkt haben, dazu gehören etwa willkürliche Steuern für Banken. Österreich ist da ein Paradebeispiel: Vor sechs Monaten hat sich Wien ruhig verhalten, heute gehört es zu den lautesten Kritikern.

Premier Orbán ist vor allem mit dem Umbau Ungarns beschäftigt. Hat er auch eine längerfristige politische Vision?

Er wälzt große Theorien über den Untergang des Westens und den neuen Wind aus dem Osten. Damit sind Russland, China und Indien gemeint. Orbán vertritt die Ansicht, dass China das 21.Jahrhundert prägen wird– so wie die USA das Jahrhundert davor geprägt hatten. Ich halte diese These für fragwürdig, doch in Ungarn schient derzeit eine prägnant antiwestliche Stimmung zu herrschen. Orbán weiß, dass er damit in weiten Teilen der Bevölkerung gut ankommt.

Apropos Unterstützung: Konservativ-populistische Parteien in Europa können derzeit grob geschätzt auf ein Viertel bis ein Drittel der Stimmen zählen – Jarosław Kaczyńskis Partei „Recht und Gerechtigkeit“, die bei der Wahl in Polen zuletzt auf rund 30Prozent kam, ist da ein repräsentatives Beispiel. Der Wahlsieg der Fidesz in Ungarn im Vorjahr war hingegen überwältigend.

Ja 52,7Prozent, aber das gab der Fidesz zwei Drittel der Mandate im Parlament. Orbán und seine Parteikollegen interpretieren diese 52,7Prozent als Blankoscheck für alles, was ihnen einfällt. Aber die meisten Gesetze, die seit der Wahl beschlossen wurden bzw. in der Pipeline sind, waren im Wahlkampf überhaupt kein Thema. Daher gilt das Fidesz-Argument vom Volkswillen, dem damit Genüge getan wird, nicht. Das Volk hat nicht dafür gestimmt, dass die Mediengesetze restriktiver gehandhabt werden. Auch nicht dafür, dass die privaten Pensionsversicherungen verstaatlicht werden. Fidesz hat im Wahlkampf nie davon gesprochen, kein konkretes Programm vorgelegt, sondern nur die Amtsinhaber kritisiert. Und jetzt reden sie davon, dass das Wahlvolk die Wende legitimiert hat. Das hat es in dieser Dimension in Mitteleuropa noch nicht gegeben.

Halten in Ungarn die demokratischen „Checks and Balances“ noch?

Nein. Dem Verfassungsgericht wurden dank der Zweidrittelmehrheit die Hände gebunden, es kann nicht mehr über Budgetpolitik befinden. Die Medien können ihre Kontrollpflichten nicht mehr ungehindert wahrnehmen, die Mehrheit der Ungarn bezieht ihre Informationen aus dem staatlichen Fernsehen – und dort haben Fidesz-Sympathisanten die Kontrolle übernommen. Die Entlassungswelle in den Medien im vergangenen Jahr ist beispiellos in einer Demokratie.

Wenn man Ihnen so zuhört, könnte man fast den Eindruck gewinnen, es liege außerhalb der Vorstellungskraft der jetzigen Regierung, dass sie eines Tages nicht mehr an der Macht sein könnte.

Es kommt noch schlimmer. Die Fidesz hat Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass sie für die nächsten 20 Jahre an der Macht bleiben könnte.

Wird hier nicht überreagiert? Man kann über das Ausmaß der Legitimation, die Mandatsverteilung im Parlament streiten, aber das ändert nichts daran, dass der Wahlsieg von Fidesz eindeutig war. Vielleicht sollten die Kritiker Ungarns im Westen einfach abwarten, was weiter passiert?

Ungarn ist keine Diktatur, und ich würde Orbán nicht mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin oder Alexander Lukaschenko in Weißrussland vergleichen. Es gibt keine politischen Häftlinge, die Meinungsfreiheit ist gewährleistet, Ungarn ist demokratisch – obwohl ich es als gelenkte Demokratie bezeichnen würde. Ich befürchte aber, dass die erratischen Wirtschaftsreformen im Inland in Verbindung mit den globalen wirtschaftlichen Turbulenzen zu einer Radikalisierung führen könnten.

Orbán ist kein Putin und kein Lukaschenko. Aber vielleicht ist er ein Viktor Janukowitsch? Schließlich wurde in der Ukraine in der Vorwoche die ehemalige Regierungschefin Julia Timoschenko zu einer Haftstrafe verurteilt. Und in Budapest wird Expremier Ferenc Gyurcsány der Prozess gemacht, weil der den Staat Ungarn finanziell geschädigt haben soll.

Meiner Ansicht nach hat Gyurcsány während seiner Amtszeit politische Fehler begangen, aber nicht das ungarische Gesetz gebrochen. Sollte er schuldig gesprochen und zu einer Haftstrafe verurteilt werden, wäre es der endgültige Beweis dafür, dass Ungarn kein Rechtsstaat mehr ist. Aber ich erwarte nicht, dass es dazu kommt. Ich vermute vielmehr, dass der Prozess dazu dient, Gyurcsány in den Augen der Öffentlichkeit zu diskreditieren. Ich denke, dass Orbán am Ende des Tages nicht den Weg gehen will, den die Ukraine eingeschlagen hat.

Zur Person

Charles Gati, Jahrgang 1934, musste im Alter von 22 Jahren nach dem von Sowjettruppen niedergeschlagenen Aufstand aus Ungarn flüchten. Der Politologe promovierte in den USA an der Indiana University und unterrichtet derzeit an der John Hopkins University in Washington. Anfang der 1990er-Jahre war Gati Berater im strategischen Planungsstab des US-Außenministeriums. Der Autor zahlreicher Bücher (das letzte wurde 2006 publiziert und befasst sich mit der ungarischen Revolte 1956) publiziert regelmäßig im Magazin „Foreign Affairs“.

Gati diskutiert heute, Mittwoch, im „Politischen Salon“ mit dem ungarischen Europaabgeordneten György Schöpflin über die aktuellen Entwicklungen in Ungarn. Moderieren wird „Presse“-Außenpolitikchef Christian Ultsch. Die Veranstaltung beginnt um 18.30Uhr im Institut für die Wissenschaften vom Menschen (Spittelauer Lände3, 1090 Wien).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.10.2011)

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