Libyen: Jeder will Gaddafis Leiche sehen

Libyen Jeder will Gaddafis
Libyen Jeder will Gaddafis(c) REUTERS (HO)
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Vor dem Kühlhaus, in dem Libyens Diktator aufgebahrt ist, bilden sich Schlangen. Doch in die Freude über das Ende Gaddafis mischt sich Sorge über das Abgleiten des Landes ins Chaos.

Es ist der allerletzte Schritt der Entmachtung: Der Diktator liegt tot in einer heruntergekommenen Fleischkühlanlage in der Stadt Misrata. Seine ehemaligen Untertanen stehen Schlange, um seine Leiche zu sehen und sich zu vergewissern: Es ist kein Leben mehr in ihm. Für zuhause, für Familie und Freunde, noch ein Foto mit der Handykamera vom verblichenen „großen Revolutionsführer“, der entstellt auf dem Boden liegt. Das gleiche Spektakel bei Motassim, einem seiner Söhne, der ihm als Sicherheitschef diente. Eine Trophäenschau, wie bei erlegten wilden Tieren.

„Gaddafi war schlimmer als Hitler“, behauptet Mohammed, der in Bab al-Azizia, der ehemaligen Residenz des Diktators, Revolutionsanstecker verkauft. „Er hat Söldner engagiert, um sein eigenes Volk zu ermorden, ließ Zivilisten bombardieren, foltern und hinrichten. Der Mann kannte keine Moral.“ Die Mauern des legendären Gaddafi-Areals haben Bagger mittlerweile eingerissen. Keine Spur mehr von den Kinderspielplätzen, dem Privatzoo und dem Zeltlager Gaddafis. In den Trümmern der Ruine klettern Kinder und schwenken die rot-schwarz-grüne Flagge der Revolution.

Volksfest mit lauter Musik. In Tripolis wird auf dem Grünen Platz jede Nacht unter schwarz-blauem Himmel und Palmen gefeiert. Ein ausgelassenes Volksfest mit lauter Musik, unaufhörlichen „Gott ist groß!“-Rufen, aufdringlichem Hupkonzert von Autos, Freudenschüssen der Rebellenkämpfer und glänzendem Feuerwerk. Die Stimmung ist so ausgelassen wie noch nie in der Hauptstadt. Der Tod Gaddafis bedeutet das Ende des Krieges, der mit den Protesten am 17.Februar im ostlibyschen Bengasi seinen Anfang genommen hat. Mehrere zehntausend Menschen wurden dabei getötet und verletzt. Wie viele es genau sind, weiß niemand.

Bedauern für die Umstände des Todes von Gaddafi oder die Zurschaustellung seiner Leiche gibt es nicht. Gaddafis Angehörige und sein Stamm in Sirte haben die Aushändigung seiner Leiche gefordert. Der Übergangsrat (NTC) will die Leiche an einem geheimen Ort beerdigen und hat eine Obduktion abgelehnt. Die Ankündigung der UNO, eine Untersuchung der Umstände einzuleiten, erntet in Tripolis nur ein verständnisloses Schulterzucken. „Das können sie ruhig machen, interessiert aber in Libyen niemanden“, meint ein Schwarzunifomierter, der für die Sicherheit rund um den Grünen Platz zuständig ist und Taschen geflissentlich kontrolliert. Sein Kollege, mit einer Kalaschnikow in Händen, lacht laut.

Angeblich war den Rebellen seit mehreren Tagen bekannt gewesen, dass sich der „Führer“ in seiner Geburtsstadt Sirte aufhalte. Wenn es der NTC wusste, war es auch der Nato bekannt. Gut möglich, dass die Information auch von den westlichen Alliierten selbst stammte: Sirte stand unter permanenter Luftüberwachung. Der kleine Konvoi, der aus der umzingelten Stadt ausbrechen wollte, wurde von einer Drohne angegriffen. Zwei Militärfahrzeuge wurden direkt getroffen. Gaddafi flüchtete oder wurde von seinen Begleitern angewiesen, in der Dränageröhre unter der Straße vor weiteren Raketenagriffen Schutz zu suchen.


Schüsse aus nächster Nähe. Die Todesumstände des ehemaligen Herrschers Libyens sind eigentlich eindeutig. Er wurde unter Schlägen und Beschimpfungen zum Auto gezerrt. Wie Handyvideoaufnahmen zeigen, war er nur leicht verletzt, als er abgeführt wurde. Deutlich ist ein Streit zu hören, ob man Gaddafi erschießen soll oder nicht. Als die entscheidenden Schüsse fallen, ist Gaddafi nicht mehr im Bild. „Er kam ins Kreuzfeuer und wurde von einer Kugel in den Kopf getroffen“, hatte Mahmoud Jibril, der Premierminister des NTC, als Todesursache angegeben. Eher unwahrscheinlich. Gaddafi war von allen Seiten umringt, als man ihn an seinen Haaren auf die Ladefläche eines Pick-ups zog. Die NTC-Soldaten hätten auch getroffen werden müssen, blieben jedoch alle unverletzt. Die Kugel, die Gaddafi im Kopf traf, stammte aus einer Pistole vom Kaliber 9mm, wie ein Rebell versicherte, der an der Gefangennahme seines ehemaligen Führers beteiligt war. Eine Waffe, die Soldaten im Gefecht aus größerer Entfernung normalerweise nicht benutzen. Der Fahrer des Krankenwagens, mit dem ein angeblich verletzter Gaddafi ins Krankenhaus transportiert wurde, hat angegeben, dass Gaddafi zu diesem Zeitpunkt schon tot war. Von seinem Sohn Motassim gibt es ein Video, das ihn als Gefangenen zeigt: mit langem Bart, eine Flasche Wasser trinkend. Heute liegt er aber tot in einem Container. Wie lange sich Gaddafi in seiner Heimatstadt aufgehalten hat, ist noch unklar. Gut möglich, dass er vom Einmarsch der Rebellen in Tripolis in der Nacht vom 20. auf den 21. August überrascht wurde. Für Fluchtvorbereitungen in den Süden der Sahara, Richtung Niger oder Algerien, blieb keine Zeit mehr. Über den Verbleib von Saif al-Islam, der das politische Erbe seines Vaters hätte antreten sollen, gibt es nur Gerüchte: Hat es zunächst geheißen, er sei gefangen genommen worden, hört man nun, er sei in Richtung Niger geflüchtet.

„Sie müssen die jungen Kämpfer verstehen, die Gaddafi verhafteten“, meint Yussef Mrayed, ein Bauingenieur. „Seit acht Monaten kennen sie nur Krieg und sind keine ausgebildeten Soldaten.“ Mit Freunden und Bekannten will der 65-Jährige übrigens eine Partei gründen, was unter Gaddafi untersagt war. „Wir wollen Demokratie und Gerechtigkeit für alle.“ Aber es bestehe die Angst, dass die Früchte der Revolution von Islamisten infrage gestellt werden. Mrayed nennt den Namen von Ismael Sallabi, einem bekannten islamischen Gelehrten und Fundamentalisten, der das 17.Bataillon in Bengasi anführt. „Sallabi hat im Fernsehen offen darüber gesprochen, dass wir in Libyen einen islamischen Staat brauchen.“

Gefahr von Stammesfehden.
Die Islamisten sind eine der großen Herausforderungen, vor denen der neu zu bildende libysche Staat steht. Mit der „Erklärung der Befreiung“ in Bengasi, an dem Ort, an dem der Aufstand gegen das Gaddafi-Regime im Februar begonnen hat, tritt die „Roadmap“ in Kraft. Dies ist der Fahrplan zur Demokratie, den der NTC wenige Tage nach dem Einmarsch in Tripolis festgelegt hat. Innerhalb von 30 Tagen muss eine neue Übergangsregierung gebildet werden. Danach wird eine neue Verfassung erarbeitet. Spätestens nach zwei Jahren müssen Wahlen für eine Nationalversammlung stattfinden, die innerhalb eines Monats einen Premierminister wählt.

„Eine neue Übergangsregierung wird es bereits nächste Woche geben“, versicherte Mohammed El Kesh, der Sprecher des NTC in Tripolis. Mahmoud Jibril, der bisher amtierende Premierminister, macht nicht weiter. Hoffnungen auf die Nachfolge macht sich Jibrils Stellvertreter, Ali Tarhouni, der im Namen des NTC die Leiche Gaddafis in Sirte identifiziert hat. Die Frage ist, ob sich die Islamisten erneut auf einen säkularen Premierminister einlassen. Tarhounis lebte seit 1973 in den USA im Exil und war Mitbegründer der damals marxistischen Oppositionsgruppe „Nationale Demokratische Front“.

Dabei sind die Islamisten nur ein Problem von vielen. Mehrfach war es im August und September zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Milizen gekommen. Hintergrund sind alte Fehden zwischen Stämmen, von denen es in Libyen insgesamt 140 gibt. Jetzt werden der Staat und die Macht neu verteilt, da möchte jede Miliz, jeder Stamm und jeder Klan seine Pfründe sichern. Milizen touren zwar nicht mehr wie zuvor allgegenwärtig durch Tripolis, sind aber noch nicht in ihre Heimatorte zurückgekehrt. Sie lagern am Stadtrand. Die Frage ist: Wird die Euphorie über den Sieg und die Solidarität so lange anhalten, bis eine Basis für eine gefestigte Demokratie gefunden ist? Oder werden die ideologischen und ethnischen Unterschiede sehr bald aufbrechen? Gaddafi mag tot und entwürdigt im Kühlhaus liegen. Libyen aber ist ein Pulverfass, das leicht explodieren kann.

Fakten

Einwohnerzahl Libyens
6,3 Millionen

Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (2010)
14.000 Dollar

Ackerland
ein Prozent der Landesfläche

Ölproduktion
1,8 Millionen Barrel pro Tag

Ölexporte
1,4 Millionen Barrel pro Tag

Wichtigste Außenhandelspartner
Italien, Frankreich, China, Spanien, Deutschland, USA

Zahl der Internet-User
353.900
(Platz im weltweiten Vergleich: 124)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.10.2011)

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