Es gärt in der arabischen Welt

(c) AP (Hasan Jamali)
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Reportage vom 16. 1. Die Vorgänge der letzten Tage in Tunesien rühren erfahrene Beobachter der Region zu Tränen - und lassen andere Regime zittern. Ein Volk hat seine Würde wiedererlangt.

Es gibt Fotos, Videos und TV- Bilder, die wirken sich direkt auf die Magengegend aus. Sie treffen irgendetwas, werfen selbst einen hartgesottenen Journalisten aus der Bahn. Gestern war es eine Flut solcher Eindrücke aus Tunesien, die mir nach zwei Jahrzehnten als Korrespondent in der arabischen Welt die Tränen kommen ließ. Und, was das Besondere ist, wenn man aus einer Region berichtet, von der meist Negativschlagzeilen kommen: Es waren Freudentränen. Erstmals wird eines der verhassten Regime abserviert.

Da war etwa das Foto der tunesischen Bloggerin Nawaat. Sie versorgte den Rest der Welt seit Beginn des tunesischen Aufstands Mitte Dezember mit Fotos und Videos. Es war oft die einzige Informationsader, und es waren vor allem in den letzten Tagen oft grausige Videos von Polizisten, die in Demonstrationen schossen. Aber ihr letztes Foto fasst die neue Lage in Tunesien zusammen: Es stammt von einer Beerdigung eines Demonstranten, der von der Polizei getötet wurde. Ein Soldat steht da und salutiert dem Sarg.

Und dann das Video auf YouTube, auf dem im Dunkel wenig zu sehen ist. Dennoch wirkt es sehr emotional. Es ist von einem Balkon aus gefilmt. Die Straße ist leer, es herrscht Ausgangssperre. Da taucht ein Mann auf und ruft: „Wir sind frei, Tunesien ist frei, ihr seid ein großartiges Volk!“ Er geht die Straße entlang und wiederholt das immer wieder. Die Frau an der Kamera beginnt zu weinen. Am Ende kommen von vielen Balkons Freudentriller.

Auf meinem Blog habe ich oft über die Lage in Tunesien berichtet. Nur zögerlich kamen Kommentare von Tunesiern, die in Deutschland oder Österreich leben, darunter von einer Frau mit dem Pseudonym „Mondegreen“. „Auch im Ausland muss man vorsichtig sein. Ein falsches Wort am falschen Ort, schon wird man zur Botschaft zitiert oder bei der Einreise in Tunesien nach der Kontrolle mitgenommen“, schrieb sie Anfang Jänner. Und gestern: „Ich bin unglaublich stolz auf die Tunesier. Sie haben sich nicht einschüchtern, beirren und blenden lassen. Ihre Entschlossenheit [...] hat den Unterdrücker in die Flucht geschlagen.“

Westliche Doppelbödigkeit. Für mich hat da ein Volk seine Würde wieder. Die Tunesier können stolz sein, sie taten, wovon der Rest der arabischen Welt träumt. Und das ohne Hilfe Amerikas oder Europas. Dort schwieg man wochenlang beschämend zu ihrem Aufstand. Die Doppelbödigkeit westlicher Politik kam zum Vorschein. Wie konnten sie einen Diktator kritisieren, der ihr Mann im Kampf gegen Terror und in der Sicherung von Urlaubsgebieten war...

Wie geht es weiter? Es wird nicht einfach, das uralte Monopol von Ben Alis Regierungspartei schnell zu ersetzen. Die Oppositionsparteien sind klein und in Staatsgeschäften unerfahren. Es ist ein Balanceakt, die korrupte Machtelite auszuschließen und den Verwaltungs- und Polizeiapparat am Laufen zu halten. Die ungehemmten Plünderungen beweisen, dass Tunesiens Polizei, wie alle arabischen Polizeiapparate, vor allem zum Schutz des Regimes trainiert. Wenn das weg ist, können sie die Bürger nicht schützen.

Es kocht auch schon in Kairo. Aber bei all den Schwierigkeiten, die auf die Tunesier zukommen: Sie werden es schaffen. Und sie werden wohl nicht die Letzten sein – die Tunesier sind ein Beispiel für alle Araber. Sie haben ihre Freiheit weder durch Einmischung von außen noch im Namen irgendwelcher Religionen und Scheichs erlangt.

In Kairo etwa gibt es kein anderes Thema mehr, die Blogs überschlugen sich mit Berichten, auf Facebook und Twitter hagelte es Gratulationen für die Tunesier. Die unabhängigen arabischen Sender stellten am Freitag ihre Berichterstattung um, jetzt live aus Tunis. Al-Jazeera war die erste Station, die Ben Alis Flucht meldete. Da zogen in Kairo bereits erste Jubeldemonstranten vor die tunesische Botschaft.

Überall werden Parallelen zu anderen arabischen Ländern diskutiert, die Ähnlichkeiten zu jenen in Tunesien haben, vor allem auf den Demos in Algerien. Dann verbreiteten sich Meldungen, dass die Leute auch in Jordanien auf die Straße gehen. Ein Freund klingelt an meiner Tür in Kairo, in der Hand einen Bogen Papier mit einer tunesischen Fahne, die er gerade mit seinem Farbdrucker gemacht hat. „All unsere Freunde hängen das in die Windschutzscheibe“, sagt er, „damit das ägyptische Regime das zu sehen bekommt.“ Wie andere arabische Regierungen hüllt sich auch jene Ägyptens in Schweigen. „Sie fürchten, die Nächsten zu sein“, erzählt mein Bekannter und drückt mir die Fahne in die Hand.

Die Mixtur aus (Jugend-)Arbeitslosigkeit, Armut, Korruption, hohen Lebensmittelpreisen und vor allem aus Präsidenten, Königen, Emiren und deren Familien, die seit Jahrzehnten ihre Länder aussaugen, sie wurde in vielen anderen arabischen Küchen angerührt. Es ist Zeit, sie wegzuschütten.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.12.2011)

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