"Die Religiösen führen ein bigottes Doppelleben"

Religioesen fuehren bigottes Doppelleben
Religioesen fuehren bigottes Doppelleben(c) REUTERS (MORTEZA NIKOUBAZL)
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Frauenrechte sind in Saudiarabien noch am absoluten Nullpunkt. Seit dem Ausbruch der Arabellion vor einem Jahr versuchen allerdings auch die Frauen, sich in mikroskopischen Schritten mehr Freiheiten zu erkämpfen.

Flamenco wird von Männern und Frauen getanzt, Frauen jedoch tanzen ihn häufiger“, tönt aus dem Dunkeln tapfer eine Lautsprecherstimme auf Arabisch und Englisch. Das Auditorium tuschelt leise und erwartungsfroh. Immerhin, das puritanisch-wahhabitische Königreich Saudiarabien gönnt sich an diesem Abend eine ganz besondere Premiere: die erste Flamencovorstellung seit Menschengedenken in der Heimat des Propheten.

Mit dem weltberühmten andalusischen Körperzauber allerdings hat das, was dann im König-Fahd-Kulturzentrum in Riad auf die Bühne kommt, nur sehr entfernt zu tun. Die staatlichen Moralzensoren haben ganze Arbeit geleistet – anderthalb Stunden ohne Paartanz, keine einzige Frau auf der Bühne, nach einem Dutzend einsamer Männersoli fällt der Vorhang. Die Flamencoband spielt die ganze Zeit hinter einem zusätzlichen grauen Sichtschutz – denn zum Ensemble gehört auch eine Frau, die nach saudisch-islamischer Sitte dort nichts zu suchen hat. Selbst beim Schlussapplaus bleibt die Künstlerin den Blicken entzogen, nur einer der Musiker deutet unbeholfen hinter sich in das Bühnendunkel, wo sich seine Kollegin vermutlich irgendwo verborgen hält. „Das haben wir bei unserem letzten Spanien-Urlaub aber viel besser gesehen“, schimpfen zwei Damen in fein bestickten Abayas und streben zu ihren Luxuslimousinen, die samt Fahrer draußen auf dem riesigen Parkplatz warten.

Saudiarabien und seine Frauen. Während im öffentlichen Raum weiter um jeden Zentimeter Freiheit gerungen wird, ist im virtuellen Raum die Zukunft bereits angebrochen. Junge Frauen aller Schichten vernetzen sich auf Twitter und Facebook und entdecken die Macht sozialer Medien. Strenge Islamisten geraten im Cyberspace immer mehr in die Defensive, müssen sich ihre frommen Dogmen von kundigen Kontrahentinnen auseinanderpflücken lassen. Die Aura der gottgleichen Unangreifbarkeit schwindet, das Monopol ihrer Interpretation der heiligen Schriften wankt, Prestige und Autorität bröckeln. Auf Twitter werden sie als Menstruationsscheich oder Plazentascheich verhöhnt, weil ihre frommen Vorschriften ausschließlich um Regel und Geburt kreisen.

(c) Die Presse / GK


Gottesvergiftung. „70 Prozent aller Fatwas beschäftigen sich mit Frauen – mit ihren Haaren, Kopftüchern, mit Händeschütteln und Menstruation“, sagt Kholoud al-Fahad aus der Ölstadt Dahran im Osten des Landes. Passiere aber ein Skandal wie vor zwei Jahren die Überschwemmungen in Dschidda mit mehr als hundert Toten, stehe keiner der Kleriker auf und kritisiere die korrupten Politiker. Die 32-jährige Kunstwissenschaftlerin trägt demonstrativ kein Kopftuch mehr und schreibt einen eigenen Blog für Frauen, der bisher siebenmal gestört wurde. „Ich war sehr fromm als Mädchen, heute bin ich das andere Extrem“, sagt sie. Als eine Art Gottesvergiftung beschreibt sie die islamische Indoktrination, aus der sie sich befreit hat. „Ich fühlte mich betrogen, die Religiösen sind Lügner, inkompetent und führen ein bigottes Doppelleben.“

Kürzlich konterte sie via Twitter einem Scheich, der wieder einmal per Fatwa Sportunterricht für junge Mädchen verboten hatte, weil deren Körperbewegungen andere Mädchen zu lesbischen Gelüsten reizen könnten. „Du liegst nur auf deinem Sofa, fantasierst ständig über Sex und denkst, alle anderen Menschen sind genauso.“ Er habe 19.000 „Follower“ auf Twitter, antwortete der Scheich indigniert. Lady Gaga hat fünf Millionen, kam prompt als elektronische Retourkutsche.

Dass Frauen in Saudiarabien nicht autofahren dürfen, darüber wundert sich inzwischen die halbe Welt. Dieses absurde Verbot ist allerdings nur ein kleiner Ausschnitt des großen Systems der traditionell-religiösen Entrechtung.

Fünf Aktivistinnen haben sich an diesem Abend im Haus von Aziza al-Yousef bei Tee und Gebäck versammelt. „Das Kernproblem ist das Vormundrecht des Mannes und das Fehlen jeglicher Rechtssicherheit für uns“, erläutern die Frauen und dann prasseln nur so die Beispiele aus ihrer Welt, die sie als komplett verdreht empfinden. Der Mann kann Reisen erlauben oder verbieten, das Studieren oder das Arbeiten. Er muss bei allen ärztlichen Eingriffen zustimmen, sogar wenn bei einer Geburt die werdende Mutter eine Spritze gegen die Schmerzen wünscht.


Minderjähriger Vormund. Bei der Heirat gibt es kein gesetzliches Mindestalter, eine 13-Jährige kann zur Hochzeit mit einem 50-Jährigen gezwungen werden, was nicht selten passiert. Oder eine 80-jährige Oma muss ihren 16-jährigen Enkel als männlichen Vormund ertragen, eine Witwe ihren minderjährigen Sohn. Eine Frau kann nicht allein eine Wohnung mieten oder ein Konto eröffnen. „Als ich meinen Reisepass erneuern wollte, musste ich meinen jüngeren Bruder fragen“, erzählt May al-Sharif. „Sie sagen immer, unser Gesetz ist die Scharia, doch keiner sagt, was das genau bedeutet“, sekundiert Rasha Alduwisi, Übersetzerin und Mutter zweier Kinder. „Die Männer beanspruchen ein Monopol bei der Interpretation und spielen mit den Vorschriften herum, wie es ihnen beliebt.“

Nur auf einen Mann lassen alle in der Runde nichts kommen, den kränkelnden 87-jährigen Abdullah, König und Hüter der beiden heiligen Moscheen. Er öffnete dem weiblichen Nachwuchs in den vergangenen Jahren wichtige Türen. 120.000 Stipendien hat Saudiarabien inzwischen ausgegeben, die Hälfte an junge Frauen. Wenn Eltern Angst haben, ihre Tochter allein zu schicken, zahlt der Monarch auch für einen Angehörigen als Begleiter. Wer also wirklich ins Ausland will, der kann. Und anschließend kommen die jungen Leute, so das Kalkül, mit neuen Ideen und Überzeugungen zurück.

Kein Wunder, dass viele Männer und Väter verunsichert reagieren. Ergingen sich vor zwei Jahren offizielle Gesprächspartner im informellen Teil der Unterhaltungen gerne in stolzen Schilderungen der logistischen Rekordleistungen während des jährlichen Hadsch, gab es diesmal nur ein Thema – ihre halbwüchsigen Töchter.

New York, New York. Vor dem Arabischen Frühling war die islamisch-männliche Welt daheim noch völlig in Ordnung, die weiblichen Nachkommen klaglos verschleiert, glaubensstreng und unauffällig. Plötzlich aber reden die jungen Frauen nur noch „über Menschenrechte, Politik und ihre Freiheit“. Und sie wollen weg – am liebsten gleich nach New York.

„Ich bin sehr beunruhigt“, stöhnt ein hoher General, der seine Familie als „meine eigene kleine Diktatur“ bezeichnet. Seine Tochter habe bisher noch nicht einmal eine Buchhandlung allein aufgesucht. Jetzt aber lässt sie einfach nicht mehr locker mit ihrem Wunsch nach der großen, weiten Welt. Ein anderer Vater, der sonst Terroristen jagt, seufzt: „Wir erleben ohne Zweifel tiefgreifende Umwälzungen. Und mir ist klar, dass sie unaufhaltsam sind.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.01.2012)

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