Marie Colvin: Gefangen im Horror von Homs

Marie Colvin Gefangen Horror
Marie Colvin Gefangen Horror(c) EPA (THE SUNDAY TIMES/HO)
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Marie Colvin gelangte als eine der wenigen Kriegsberichterstatter ins syrische Homs. Sie berichtete über die brutale Belagerung der Stadt, bis sie von einer Granate getötet wurde. Ihre letzte Reportage.

Marie Catherine Colvin (*1956 im Staat New York) erwarb sich in den 1980ern einen Ruf als Kriegsreporterin. 2001 verlor sie auf Sri Lanka ein Auge, als sie unter Beschuss kam; die Augenklappe wurde ihre Trademark. Am 22.Februar starb sie durch Granatbeschuss auf die syrische Stadt Homs. Drei Tage zuvor erschien in der „Sunday Times“ ihre letzte Reportage, die wir gekürzt bringen.

Sie nennen es den Witwenkeller. Zwischen provisorischen Betten und verstreuten Habseligkeiten drängen sich verängstigte Frauen und Kinder. Sie sind Gefangene des Horrors von Homs. Seit zwei Wochen wird die syrische Stadt bombardiert.

Unter den 300Menschen, die sich in den Keller einer Holzfabrik im belagerten Viertel Baba Amr geflüchtet haben, ist die 20-jährige Noor, die ihren Mann und ihr Haus im Geschosshagel verlor. „Unser Haus wurde von einer Rakete getroffen“, sagt sie. „Dann kamen 17 von uns in einem Zimmer unter.“ Mimi, Noors dreijährige Tochter und Mohamed, ihr fünfjähriger Sohn, klammern sich an ihre Abaja. „Zwei Tage hatten wir außer Zucker und Wasser nichts zu essen. Dann zog mein Mann los, um Lebensmittel zu finden.“ Es war das letzte Mal, dass sie Masiad, der in einer Handy-Werkstatt arbeitete, sah. Eine Granate zerriss ihn in Stücke. Ein doppelter Schicksalsschlag für Noor, deren 27-jähriger Bruder Adnan zusammen mit Masiad starb.

Wochenlang kein Tageslicht.
Jede Frau in dem Keller hat ähnliche Geschichten von Not und Tod zu erzählen. Das Versteck ist einer der wenigen Keller in Baba Amr. Tagsüber schieben die Frauen Schaumstoffmatratzen an die Wände. Die Kinder haben seit Beginn der Belagerung durch die Armee am 4.Februar kein Tageslicht mehr gesehen. Die meisten Familien flüchteten ohne Gepäck, sie trugen nur ihre Kleider am Körper. Die Versorgung mit Lebensmitteln funktioniert nicht mehr richtig. Reis und Tee gibt es noch und einige Dosen Thunfisch, die ein lokaler Scheich aus einem ausgebombten Supermarkt liefern ließ.

Vergangene Woche kam im Keller ein Baby zur Welt, es wirkt genauso verstört wie seine Mutter. Fatima, 19Jahre, kam in den Keller, nachdem ihr Wohnhaus dem Erdboden gleichgemacht worden war. „Wie durch ein Wunder haben wir überlebt“, flüstert sie. Fatima ist so stark traumatisiert, dass sie ihrem Baby nicht die Brust geben kann. Der Säugling bekommt Zucker und Wasser, Milchpulver gibt es hier nicht. Fatima weiß noch nicht, ob sie Witwe ist oder nicht. Ihr Mann, ein Hirte, war außerhalb der Stadt, als der Beschuss der Stadt begann. Seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört.

Scharfschützen auf Menschenjagd. Der Keller der Witwen ist Sinnbild für die Lage der 28.000Männer, Frauen und Kinder in Baba Amr. Das Viertel besteht vor allem aus niedrigen Einfamilienhäusern; es ist von der syrischen Armee umzingelt. Das Militär feuert wahllos mit Raketenwerfern, Mörsern und Panzerkanonen auf die Häuser. Scharfschützen auf den Dächern der nahen al-Baath-Universität und höheren Gebäuden, die Baba Amr umgeben, schießen auf jeden Zivilisten, der in ihr Visier tritt. In den ersten Tagen der Belagerung wurden die Bewohner des Viertels reihenweise abgeknallt. Inzwischen wissen sie, wo die Schützen lauern. Wenn sie aus der Deckung über eine Kreuzung müssen, rennen sie, so schnell sie können. Autos sind auf den Straßen kaum mehr zu sehen.

In fast jedem Gebäude klaffen Krater; Raketen und Geschosse der Panzerkanonen haben Löcher in Fassaden und Zwischendecken gerissen. Das Haus, in dem ich untergebracht war, verlor vorige Nacht das komplette obere Stockwerk. In einigen Straßen sind ganze Gebäude eingestürzt. Übrig bleiben zerfetzte Kleidungsstücke der Bewohner, ihr zerborstenes Mobiliar, zerbrochene Teller, Tassen und Töpfe.

Homs ist eine Stadt der Hungrigen und Frierenden, in der das Echo der explodierenden Raketen und Gewehrsalven hallt. Telefonleitungen funktionieren nicht mehr, die Stromleitungen sind längst gekappt. Nur wenige Familien haben Diesel, um mit ihren Öfen gegen diesen außergewöhnlich kalten Winter anzuheizen. Das Wasser in den Schlaglöchern gefriert, Schnee weht durch zerschossene Fenster. Die Läden sind zu oder zerstört, Familien teilen das wenige, das sie haben, mit ihren Nachbarn. Viele der Todesopfer und Verletzten gerieten bei der Suche nach Essen ins Armeefeuer. Aus Angst vor den Scharfschützen werfen sich Menschen das Brot über die Dächer zu – oder durchbrechen die Wände zwischen den Häusern, um nicht gesehen zu werden.

Regierungstruppen haben einen tiefen Graben um das Viertel ausgehoben. Sie lassen kaum jemanden hinein oder hinaus. Die Armee setzt ihr Vorhaben gnadenlos um, um den Widerstand gegen das Regime in Homs, Hama und anderswo zu brechen. In Baba Amr steht die Bevölkerung fast geschlossen hinter der Freien Syrischen Armee (FSA), dem bewaffneten Arm der Opposition gegen Präsident Assad. Aber es ist ein ungleicher Kampf: Die Panzer und Geschütze der Armee gegen die Kalaschnikows der Rebellen. Etwa 5000Soldaten sollen um Baba Amr stationiert sein. Es heißt, sie würden einen Bodenangriff vorbereiten.

„Wir haben große Angst, dass die FSA aus der Stadt abziehen könnte“, sagt Hamida. Die 43-Jährige versteckt sich mit ihren Kindern in einer verlassenen Erdgeschoßwohnung. Ihr Haus wurde ausgebombt. „Es wird ein Massaker geben“, sagt sie. Was jeder denkt und kaum auszusprechen wagt, ist: „Warum lässt uns die Welt im Stich?“

UN-Generalsekretär Ban Ki-moon erklärte vorige Woche: „Wir beobachten, wie wahllos Wohngebiete beschossen werden, dass in Krankenhäusern gefoltert wird, dass Kinder, die vielleicht zehn Jahre alt sind, getötet oder missbraucht werden. Was wir sehen, sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ Doch die internationale Gemeinschaft konnte sich nicht zur Hilfe für die Opfer entschließen.

Der 20-jährige Abd al-Madschid, der dabei half, Verwundete aus einem zerschossenen Haus zu retten, hat eine einfache Bitte: „Sag der Welt, dass sie uns helfen muss. Hauptsache, die Bombardierungen hören auf. Sag ihnen, dass sie aufhören zu schießen!“

In besseren Tagen war die Fahrt von der libanesischen Grenze nach Homs eine idyllische Reise. Die Dörfer an der staubigen Straße waren Ansammlungen gesichtsloser Gebäude. Doch die Alleen, die von Zypressen und Pappeln gesäumt waren, führten zu bescheidenen Häusern und ihren Obstgärten mit Aprikosen- und Apfelbäumen.

Eine riskante Reise.
Heute aber legt sich Angst über jeden, der eine Fahrt in diese Gegend unternimmt. Dabei gehört dieser Landstrich zum größten Teil zum „freien Syrien“, das von der FSA kontrolliert wird. Trotzdem beherrscht Assads Armee die wichtigsten Kreuzungen, Truppen sind in Schulen, Spitälern und Fabriken stationiert. Die Soldaten sind schwer bewaffnet und werden von Panzern und Artillerie verstärkt.

Eine Fahrt nach Homs ist eine Reise über die Felder, bei der die Knochen durchgeschüttelt werden. Gelegentlich passiert man einen Checkpoint der FSA. Die Männer wärmen sich an einem Lagerfeuer und schauen sich jeden Wagen, der passieren will, ganz genau an. Wenn es dunkel wird, signalisieren nur die Strahlen von Taschenlampen, dass der Weg frei ist.

In jedem Auto, das FSA-Land durchquert, fährt ein Hirte oder Bauer mit, der sich mit den Gegebenheiten vor Ort auskennt. Die syrische Armee hat zwar noch die Macht im Land, aber nur die Leute vor Ort kennen die Nebenstrecken und Schleichwege.

Auch ich bin auf der Route der Schmuggler nach Homs gekommen. Ich musste vorher versprechen, dass ich nicht verraten würde, wie ich in die Stadt gelangte. Zum Schluss ging es durch schlammige Gräben und über Mauern. Als ich Homs am frühen Morgen erreichte, erwartete mich ein regelrechtes Empfangskomitee, das große Hoffnungen auf ausländische Journalisten setzte. Endlich würde jemand der Welt vom Schicksal ihrer Stadt berichten. Alle kletterten auf die offene Ladefläche eines Lieferwagens, und der Fahrer raste mit eingeschaltetem Fernlicht los. „Allahu akbar!“, brüllten sie hinten. „Gott ist groß!“ Es war nur eine Frage der Zeit, bis die syrischen Soldaten das Feuer auf uns eröffneten.

Nachdem sich alle beruhigt hatten, stieg ich in ein kleines Auto um, ohne auffälliges Scheinwerferlicht. Es ging über dunkle, leere Straßen, die Gefahr war förmlich zu spüren. Auf einem offenen Stück Straße feuerte die Armee mit Maschinengewehren und Granatwerfern auf uns. Wir suchten hinter verlassenen Gebäuden Schutz. Das Ausmaß der menschlichen Tragödie ist gewaltig. Die Bewohner müssen Terror erleiden. Fast jede Familie hat den Tod eines Angehörigen zu beklagen.

Geschichten des Todes. Khaled Abu Salah hat als Aktivist schon an den ersten Demonstrationen gegen Assad im vorigen März teilgenommen. Er sitzt am Boden in seinem Büro, seine Hand ist gebrochen, Verband bedeckt Wunden von Granatsplittern an seiner Schulter und seinem Fuß. Er ist ein 25-jähriger Student, der sein Leben riskierte, als er ein Video über die Ermordung von Einwohnern Baba Amrs filmte. Er bezahlte beinahe mit dem Leben, als er zwei Männer ins Spital bringen wollte, die durch Geschosse verletzt worden waren. Kaum hatte er gemeinsam mit drei Freunden die Männer in die Klinik gebracht, fiel eine Granate „gleich neben dem Eingang“, schilderte er vergangene Woche. „Meine drei Freunde waren sofort tot.“ Auch die beiden Männer, denen sie helfen wollten, starben.

Abu Ammar, ein 48-jähriger Taxifahrer, erzählt, wie er vorige Woche sein Haus verließ, um nach Essbarem zu suchen. Zusammen mit seiner Frau und der Adoptivtochter hatte er bei zwei älteren Schwestern Unterschlupf gefunden. „Als ich zurückkam, war vom Haus nichts mehr übrig“, sagt Ammar. Nur Reste von Mauerwerk standen noch. Im Schutt der Ruine leuchtete eine rote Frauenbluse. Nur einige Gläser mit eingemachtem Gemüse hatten die Katastrophe überstanden.

„Doktor Ali“ – eigentlich Zahnarzt, jetzt Chirurg – sagt, eine der Frauen sei noch lebend in die Klinik gebracht worden. Dann musste man ihr beide Beine amputieren – und sie starb.
©„The Sunday Times“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.02.2012)

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