Libyen steht vor dem Zerfall

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Ein halbes Jahr nach dem Tod von Gaddafi ist die Einheit des Landes bedroht. Der Ostteil proklamierte bereits die Autonomie. Man werde eine Teilung des Landes nicht zulassen erklärte der Interimspräsident.

Kairo/Tripolis. In Libyen liegen die Nerven blank. Seit eine Großkonferenz aus Stammesführern, Scheichs, Regionalpolitikern und Milizkommandeuren in Bengasi den Ostteil des nordafrikanischen Landes als autonom proklamiert hat, befürchtet der Nationale Übergangsrat in Tripolis ein Auseinanderbrechen Libyens.

Man werde eine Teilung des Landes nicht zulassen und die Einheit der Nation „notfalls mit Gewalt“ verteidigen, erklärte am Mittwoch Interimspräsident Mustafa Abdel Jalil gereizt, der selbst aus dem Osten stammt. Er sprach von „einer Verschwörung gegen unser Land“ und forderte die Anführer der Separatisten auf, zum Dialog zurückzukehren. Für die Krise machte er in erster Linie „Überbleibsel des Gaddafi-Regimes“ verantwortlich und zeigte sich entschlossen, ihnen mit aller Macht entgegenzutreten.

Die Separatisten-Versammlung hat zuvor feierlich erklärt, sie wolle im Osten Libyens, der sogenannten Cyrenaika, eine eigene Regierung plus Parlament mit Budgethoheit etablieren sowie eine eigene Polizei und Justiz aufbauen. Zu ihrem obersten Repräsentanten ernannte sie Ahmed Zubair al-Senussi, einen Verwandten des letzten Königs, der Mitglied im 72-köpfigen Nationalen Übergangsrat ist und unter Gaddafi 31 Jahre lang im Gefängnis saß.

Angst vor weiterer Dominanz des Westens

Er und seine Mitstreiter befürchten, der Schwerpunkt Libyens werde auch in der Post-Gaddafi-Zeit wieder im Westen liegen und die Regionen des Ostens erneut in den Schatten stellen. So stammt etwa die Mehrheit des Übergangskabinetts aus dem Westen. Von den 200 Mandaten im neuen Parlament, das im Juni gewählt werden soll, sind 60 für den Osten reserviert, dagegen 102 für den Westen – für die einen ein Abbild der Bevölkerungsdichte, für die anderen ein Beweis fortgesetzter Diskriminierung.

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„Rückfall in die Vergangenheit“

Nach den Vorstellungen der Autonomiebefürworter soll der Nationale Übergangsrat künftig nur noch für die Außenpolitik des Landes, die Armee und das Management der Ölvorräte zuständig sein, eine Forderung, die Übergangspremier Abdel Rahim al-Kib postwendend als „Rückfall in die Vergangenheit“ zurückwies. Er und Staatspräsident Jalil beschuldigten stattdessen ungenannte „arabische Bruderstaaten“, die Abtrünnigen zu finanzieren und zu unterstützen. Deren Machthaber wollten damit verhindern, dass der Arabische Frühling auch ihre Türschwellen erreiche.

Durch die Autonomiebewegung steht Libyen sechs Monate nach dem gewaltsamen Tod von Ex-Diktator Muammar al-Gaddafi möglicherweise vor einem Bruch entlang historischer Grenzlinien, wie sie seit der Unabhängigkeit des Landes 1951 bis zum Sturz von König Idriss I. im Jahr 1969 existierten. Die Großprovinz Cyrenaika mit ihren reichen Ölvorkommen und ihrer Hauptstadt Bengasi reicht von der ägyptischen Grenze bis zur Gaddafi-Geburtsstadt Sirte und umfasst praktisch die Hälfte Libyens. Hier lebt etwa ein Drittel der insgesamt sechs Millionen Einwohner des Landes.

Im Westen schließt die deutlich bevölkerungsreichere Provinz Tripolitana mit der Hauptstadt Tripolis an, sowie im Südwesten die schwach besiedelte Provinz Fezzan, zu der verschiedene Sahara-Oasen und Wüstenstädte an der Grenze zu Algerien, Niger und Tschad gehören.

Milizchefs geben den Ton an

Libyen wird seit Monaten von einer Zunahme von Gewalt und Racheakten geplagt. Die meisten Rebellenbrigaden im Westen weigern sich, ihre Waffen abzugeben, und sich der Autorität des Nationalen Übergangsrats zu unterstellen. Stattdessen geben in vielen Orten die Milizkommandeure den Ton an.

Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch und Ärzte ohne Grenzen werfen den neuen Herren vor, wahllos tausende Gaddafi-Unterstützer in Lagern gefangen zu halten und zu foltern. Als Negativerbe der 42-jährigen Gaddafi-Herrschaft verfügt Libyen weder über ein funktionierendes Justizsystem noch über nationale Institutionen, die das Land als Klammer zusammenhalten könnten. Zusätzlich verstärkt werden die zentrifugalen Tendenzen durch die Stammesstrukturen in der Bevölkerung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.03.2012)

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