Prozess gegen Breivik: Rückkehr in die Hölle von Utøya

Prozess gegen Breivik: Rückkehr in die Hölle von Utøya
Prozess gegen Breivik: Rückkehr in die Hölle von Utøya(c) ASSOCIATED PRESS (Heiko Junge)
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Heute beginnt in Oslo der Prozess gegen den Attentäter Anders Breivik. Die zehn Wochen der Verhandlung werden für Angehörige und Überlebende zu einer neuen Prüfung.

Als er Anders Breivik zum letzten Mal sah, richtete dieser die Pistole auf ihn. „Herrgott, er trägt doch eine Polizeiuniform“, fuhr es Per Anders Langerød durch den Kopf, daran kann er sich erinnern, als wäre es gestern gewesen: „Ich sprang ins Wasser, er schoss, traf mich aber nicht. Ich tauchte weg, und als ich wieder an die Oberfläche kam, schoss er erneut, wieder daneben.“

Der 26-Jährige sitzt in einem Café in Oslo und lässt die Szenen wieder ablaufen, die sein Leben geprägt und ein ganzes Land in Schockzustand versetzt haben: als Breivik in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen getötet hat.

Wenn heute, Montag, der Prozess gegen den Terroristen und mutmaßlichen Massenmörder beginnt, sieht sich Norwegen nochmals auf dem Prüfstand. Ein „so normales Verfahren wie möglich“, wünscht sich Langerød, „und wenn der Rechtsstaat das schafft, haben wir bestanden“. Doch wenn vor Gericht die Obduktionsberichte verlesen werden, die enthüllen, wie Breivik junge Menschen getötet hat, „dann wird das furchtbar“.

„Ein würdiger Prozess“

„Zehn Wochen Hölle“ werde der Prozess werden, glaubt Trond Henry Blattmann, der Vorsitzende des Hilfskomitees für die Terroropfer. Er hat seinen Sohn Torjus auf Utøya verloren, jetzt setzt er alle Kraft für jene ein, die das Gleiche durchgemacht haben wie er: Er fordert einen „würdigen Prozess, in dem der Täter nach geltenden Rechtsprinzipien für das bestraft wird, was er getan hat“. Das Wichtigste sei, dass „er nie wieder auf die Straße kommt“. So sieht dies auch Langerød. „Ich bin kein Psychiater“, hält er sich aus dem Streit um die Zurechnungsfähigkeit des Täters heraus, „und ob er den Rest seines Lebens hinter weißen oder grauen Mauern sitzt, ist mir egal.“

Doch notgedrungen wird die Frage über Breiviks Psyche den Prozess dominieren. Zwei widersprüchliche psychiatrische Gutachten liegen den Richtern vor: eines, das Breivik als psychotisch einstuft und daher seine Zwangseinweisung in die Psychiatrie für nötig hält, und eines, nach dem der Mörder voll zurechnungsfähig und daher auch geeignet für eine Gefängnisstrafe ist.

Die Strafe bekümmere Breivik nicht, aber es sei ihm wichtig, als zurechnungsfähig eingestuft zu werden, so Odd Grøn, einer seiner Anwälte: „Seine Absicht war ja, seine Botschaft zu verbreiten, und das gilt auch für den Prozess.“

Wenn Breivik etwas bereut, dann nur, dass er nicht noch mehr Menschen umgebracht hat. Er ist weiterhin überzeugt von der Mission, das Abendland vom muslimischen Einfluss und den Marxisten, die dem Multikulturalismus Vorschub leisten, befreien zu müssen.

Zurechnungsfähig oder nicht?

Es ist eine immens schwierige Frage, die die Richter beantworten müssen: Kann ein Mensch normal sein, der sich als Kommandant eines nur in seinem Hirn existierenden Ritterordens sieht, der glaubt, nach einem Staatsstreich Regent von Norwegen zu werden? Der alle Muslime in einen afrikanischen Hafen deportieren und ein Programm zur Aufzucht einer reinen nordischen Rasse durchführen will? Der Jugendliche verfolgt und niederschießt, per Genickschuss sicherstellt, dass sie auch wirklich tot sind, 80 Minuten lang?

Andererseits: Kann ein Mensch, der diese Gräueltaten minuziös plant und durchführt, verrückt sein? So verrückt, dass er strafunfähig ist?

Offener Umgang mit Katastrophe

Norwegens Führung hat international viel Anerkennung für ihren Umgang mit der Katastrophe geerntet, für die Versicherung, auf den Terror mit „mehr Offenheit, mehr Demokratie“ antworten zu wollen. Hält das an? Langerød sieht jetzt „größeres Engagement, mehr Willen, über Wertfragen zu reden“. Breivik habe die Debatte mit der Waffe beenden wollen: Wir stellen einen demokratischen Prozess dagegen.

Er selbst wird am Prozess nicht teilnehmen. „Ich habe in seine Augen geschaut und in seine Waffenmündung. Ich habe kein Bedürfnis, ihn nochmals zu sehen.“ So hat der Student der Staatswissenschaften eine Berlin-Reise gebucht, um dort an seiner Masterarbeit zu schreiben, weit weg von den Gräueltaten, die zehn Wochen lang in Oslos „Tingsrett“ wieder aufgerollt werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2012)

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