Breivik-Prozess: Ein Protokoll des Grauens

(c) AP (Hakon Mosvold Larsen)
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In Oslo begann das Verfahren gegen den Rechtsextremen Anders Breivik, der vorigen Juli 77 Menschen tötete. Die detaillierte Anklageschrift kündete von den Horrorszenen, Breiviks Gesicht jedoch von Stolz.

Es sind Aufnahmen, die das Grauen des 22. Juli 2011 wieder wach werden lassen. „Hier wird geschossen, viele sind verletzt“, flüstert eine vor Angst fast erstickte Mädchenstimme im Notruf der Polizei, und als der Beamte in der Alarmzentrale ruhig versucht, mehr zu erfahren, folgt der Aufschrei: „Er kommt herein!“

Schüsse sind zu hören, Beate Tårnes hat sich auf der Toilette eingeschlossen und wagt kaum zu atmen. Mit starrem Blick sitzt der Mann, der diese Angst verursachte, jetzt auf der Anklagebank in Oslos „Tingsrett“ und hört der Wiedergabe des Notrufs äußerlich unberührt zu. Anders Behring Breivik, der 77 Menschen auf dem Gewissen hat, bereut nichts, das hat er stets betont, er kneift nur die Augen zusammen, als er hört, wie Beate haucht: „Jetzt ist es still.“ Gleich darauf knallt es wieder. Es sind die Schüsse, die in jenen Minuten sieben ihrer Freunde töteten.

Im Gerichtssaal 250 bekommen die Opfer Namen. In juristisch trockener Sprache, aber mit einer Stimme, die vom Druck der Gefühle überwältigt zu werden droht, trägt Inga Bejer Engh die 18-seitige Anklage gegen den 33-jährigen rechtsradikalen Attentäter vor. Sie wirft ihm „sehr ernsthafte Verbrechen in einem Umfang, wie wir sie in Friedenszeiten in unserem Land nicht gesehen haben“, vor: die Bombe im Osloer Regierungsviertel, die acht Menschen tötete und Dutzende verletzte, und das Massaker im Ferienlager auf der Insel Utøya, wo 69 Menschen, großteils Jugendliche starben.

Schicksal für Schicksal

Namen für Namen, Schicksal für Schicksal nennt Bejer Engh die Opfer. Da ist die Älteste, die damals 61-jährige Hanne Marie Endresen, die im Empfangsbereich des Regierungsgebäudes stand und von der Druckwelle zerfetzt wurde. Da ist Sharidan Meegan, der Breivik Lunge und Hauptschlagader durchschoss, und die verblutete, kurz bevor sie 14 werden sollte. Mit drei Schüssen tötete Breivik die 17-jährige Andrine Espeland, nur Minuten, ehe er sich verhaften ließ. Er schoss Fliehenden nach, lockte Jugendliche dank seiner falschen Polizeiuniform aus ihren Verstecken, und wenn er sie getroffen hatte, schoss er nochmals, damit sie wirklich tot waren. 70 Minuten dauert die Auflistung der Opfer, unterbrochen nur, wenn die Anklägerin ein Taschentuch oder etwas Wasser braucht. Das ist etwa so lange, wie Breivik benötigte, all diese Menschen umzubringen.

Vom Angeklagten durch eine schusssichere Glaswand getrennt, sitzen Überlebende und Hinterbliebene. Vorn thront Breivik emotionslos. „Nicht schuldig“, sagt er. Zwar habe er getan, was man ihm vorwerfe, aber Strafschuld sehe er nicht. Notwehr macht er geltend, wegen der „Islamisierung Europas“. Überdies erkenne er die Legitimität eines Gerichts nicht an, das von Parteien eingesetzt wurde, die Multikulturalismus förderten.

Die Faust zum Gruß geballt

Im schwarzen Anzug mit braunem Schlips, pomadigem Haar und pedantisch gestutztem Bart hatte er das Gericht betreten und, als die Handschellen abgenommen waren, die rechte Faust zu einem „rechtsradikalen Gruß“ geballt. Manchmal grinst er, wenn Svein Holden, der zweite Ankläger, den Werdegang Breiviks beleuchtet: Wie er mit dem Handel mit Schwindeldiplomen ein Vermögen machte, dann aber mittellos zu seiner Mutter zog; wie er ein ganzes Jahr lang nur Computer spielte, meist „World of Warcraft“; wie er seine Uniform zusammenkaufte, mit dem Emblem des „Marxistenjägers“, das ihm erlaubte, „Multikulti-Verräter“ zu töten; wie er Waffen beschaffte und den Hof mietete, wo er die Bombe baute.

Ohne Anflug von Bedauern sieht er zu, als man Filme von Überwachungskameras vorspielt, die die Explosion zeigen. Eine Frau geht am von Breivik geparkten Kleinlaster vorbei. Ein Feuerball. Dann fehlen von Auto und Frau jede Spur. Breivik lächelt, fast stolz.

Weinender „Kreuzfahrer“

Weniger cool bleibt er, als der Staatsanwalt ein zwölfminütiges Video zeigt, das Breivik vor der Tat ins Internet gestellt hatte. Holden nennt es Kurzfassung des 1800-seitigen „Manifests“, das Breivik (angeblich im Auftrag eines „Tempelritterordens“) über den „vorbeugenden Krieg“ gegen Europas „islamische Kolonisierung“ schrieb. Der Film ist ein Pamphlet aus 99 Standbildern, unterlegt mit sentimentaler Musik und Hetztexten, doch als Breivik sich in Uniform mit „Kreuzfahrern und Freiheitshelden“ wie Richard Löwenherz und El Cid, Johann Sobieski und Vlad Tepes („Dracula“ genannt) sieht und der Kampfruf „Onward, Christian Soldiers!“ kommt, da übermannen den kalten Mann Gefühle. Er wischt sich über die Augen und versucht, Tränen zu unterdrücken.

Als Holden zum Horror von Utøya kommt, hat sich Breivik wieder gefangen. Der Staatsanwalt dokumentiert jeden Mordplatz, listet auf, wo er wen erschoss. Breivik hört zu, als folge er einer Vorlesung, die ihn nichts angeht. Er reagiert kaum, als man die zwei Telefonate abspielt, in denen er sich als „Kommandant der antikommunistischen Widerstandsbewegung gegen die Islamisierung Europas vorstellt“, angibt, man habe eine „Operation vollführt“ und wolle sich ergeben. Dann legte er auf und schoss weiter. Fünf Menschen starben nach dem zweiten Telefonat.

Die Verteidigung lud 29 Zeugen, darunter Islamisten. Der Prozess wird fortgesetzt, ein Urteil wird für Juli erwartet. Die Anklage will Breiviks Verwahrung in der Psychiatrie beantragen, behält sich aber vor, für Haft zu plädieren, sollte sich die Beweislage ändern. Verteidiger Geir Lippestad will die Straffähigkeit seines Klienten herausstreichen. Siehe auch S. 23

Auf einen Blick

Der Prozess ist für mehrere Monate anberaumt, mehr als 150 Zeugen sind geladen. Ein Urteil wird für Juli erwartet. Breivik droht die Höchststrafe von 21 Jahren – falls er aber für unzurechnungsfähig erklärt wird, kommt er in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher, in der er theoretisch den Rest seines Lebens verbringen könnte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.04.2012)

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