Wie sich Anders Breivik vor Gericht inszeniert

sich Anders Breivik Gericht
sich Anders Breivik Gericht(c) REUTERS (SCANPIX NORWAY)
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Seit Anfang der Woche wird dem norwegischen Massenmörder Anders Breivik in Oslo der Prozess gemacht. Vor dem Richter platzt seine Selbstinszenierung, zurück bleibt ein Bild des Bösen. Wie geht Norwegen mit dem Trauma um?

Es ist möglich, dem Grauen zu entkommen, selbst in Norwegen. Die großen Fernsehanstalten berichten stundenlang aus dem Gerichtsgebäude, in dem gegen Anders Breivik verhandelt wird, und wenn die Kameras ausgeschlossen werden, übernehmen Liveblogger die Szene und vermitteln jedes Wort und jede Geste aus Saal 250. Doch es gibt auch Sender, die Soaps senden und Realityshows und Fußball und kein Wort über den Massenmörder.

Die Zeitungen und ihre Webseiten sind voll von den Gerichtsberichten, aber „Dagbladet“ hat eine Sonderausgabe ins Netz gestellt, auf der der Terror vom 22. Juli 2011 ausgeklammert bleibt. Dort geht es nicht um den Stand der Verhöre, sondern um einen heimischen Kunstskandal, Klatsch über die konservative US-Politikerin Sarah Palin oder einen Lottomillionär.

Das Leben in Norwegen geht weiter, trotz Breivik. Die Übertragungen aus dem zweiten Stock im „Tingsrett“ in Oslo haben durchschnittlich 170.000 Seher, das ist dreimal mehr als sonst um diese Tageszeit. Aber es ist nicht so, dass jetzt das halbe Volk an den Bildschirmen kleben würde. Schließlich hat Norwegen fünf Millionen Einwohner. Zwei Drittel haben schon vor Prozessbeginn gesagt, dass ihnen die Terrorberichterstattung zu viel sei, und diese Stimmung hat sich sicher nicht geändert.

„Geht in die Schule, geht arbeiten, macht eure Aufgaben, seid mit euren Freunden, lebt das Leben!“ So hat Eskil Pedersen, der Leiter der sozialdemokratischen Jugend (AUF) und selbst ein Hauptziel von Anders Breivik, seine Mitglieder aufgefordert, dem Prozess nicht zu viel Beachtung zu schenken. Das ist nicht Weltflucht, das ist Selbstverteidigung. Und doch sind sich alle einig, dass es wichtig und richtig ist, das Verfahren jetzt in all seiner Grausamkeit durchzuziehen. „Das ist auch ein Stück Therapie für uns alle“, sagt Trond Henry Blattmann, der Vorsitzende des Hilfskomitees für die Opfer von 22/7 und selbst Vater eines der ermordeten Burschen.

Er hat von dem Prozess „zehn Wochen in der Hölle“ erwartet, doch es ist noch schlimmer gekommen, als er gefürchtet hatte. Eiskalt, ohne den Anflug von Mitgefühl, aber konsequent in seiner kranken Logik erläutert Breivik, warum er das AUF-Lager in Utøya als Terrorziel ausgewählt hat. Er schildert, wie er zuerst andere Anschläge erwogen hat, auf einen Mai-Aufmarsch, auf Schloss und Parlament, wie er drei Bomben zünden wollte, um so viele Menschen wie möglich niederzumetzeln, „hinzurichten“ nennt er das, bis er selbst erschossen würde. Doch der Bombenbau war komplizierter, als er gedacht hatte, daher schaffte er nur die Konstruktion einer einzigen. Andere Alternativen waren ihm wegen der Urlaubszeit zu unergiebig. „Zu diesem Zeitpunkt war Utøya das attraktivste Ziel“, sagt Breivik. „Als spiele er Schach mit dem Leben unserer Kinder“, sagt Blattmann erschüttert.

Gefühle ausschalten. Um zehn wollte Breivik das Regierungsgebäude sprengen, da, glaubte er, würde die gesamte Regierung zur Kabinettssitzung versammelt sein. „Sie alle sollten sterben“, auch Jens Stoltenberg, der Premier. Um elf wollte Breivik auf Utøya sein, dort stand zu diesem Zeitpunkt ein Besuch von Ex-Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland auf dem Programm. Sie war sein „Primärziel“, sie wollte er fesseln, ihr „Todesurteil“ wegen „Kriegsverbrechen gegen das norwegische Volk“ verkünden und sie köpfen. Doch dann dauerte es viel länger als geplant, sein 1800-seitiges „Kompendium“ über die Hintergründe seiner Tat an 8000 Mailadressen vermuteter Sympathisanten zu versenden, und die „Aktion“ selbst verlief anders, als er geplant hatte. Nur acht Tote im Regierungsgebäude, das empfand er fast als ein „Fiasko“. Und Brundtland hatte Utøya längst verlassen. So begann er seine Hetzjagd auf die AUF-Jugend, „alle“ wollte er töten.

Ob er nie an die Leiden seiner Opfer gedacht habe, will Anwältin Mette Yvonne Larsen wissen, die viele Hinterbliebene vertritt. Er habe sich antrainiert, Gefühle auszuschalten, erwidert der Angeklagte. Denn eigentlich sei er „eine sehr sympathische Person“. „Ich empfehle all denen, die nicht zuhören müssen, nicht zuzuhören“, sagt er später, als er beginnt, das Utøya-Massaker zu beschreiben, „denn es wird grausame Schilderungen geben“. Für 77 Morde hat er sich zu verantworten, und ehe Anklägerin Inge Bejer Engh am Montag das Verhör beendet, wird er über jeden einzelnen Auskunft zu geben haben.

„Er ist nichts als ein Kindermörder“, sagt Vanessa Svebakk verächtlich, deren Tochter Sharydin gerade 14 geworden war, als Breivik sie ermordete. Kindermörder, das will der Täter nicht auf sich sitzen lassen. Dass 40 Prozent seiner Opfer unter 18 waren, habe ihn überrascht, sagt er. Es sei schwer gewesen, das Alter zu bestimmen, weil er die Fliehenden nur von hinten sah. „Legitime Ziele“ seien sie dennoch gewesen. Jeder „politische Aktivist“, der für Multikulturalismus eintrete, sei ein legitimes Ziel.

Zerplatzte Selbstinszenierung.Tiefes Atmen, Schluchzen, Seufzen sind in den Zuhörerbänken zu hören, wo die Angehörigen der Ermordeten sitzen, doch nur wenige machen von dem Angebot der Richterin Gebrauch, den Saal notfalls auch während der Sitzung zu verlassen. „Er hat mir mein Kind geraubt, jetzt will ich hören, was er dazu zu sagen hat“, sagt eine Mutter.

Ein böser Mensch: Das ist, was nach der ersten Prozesswoche von Anders Breivik übrig bleibt. Seine pompöse Selbstinszenierung ist zerplatzt, hilflos stotternd oder die Antwort verweigernd haben ihn die Zuhörer erlebt, wenn es um seinen Weg in den Terrorismus ging. Keiner, der nicht wüsste, was danach passierte, hätte da seine weitschweifenden Attentatspläne für anderes als Hirngespinste und kranke Fantasien gehalten. Doch so weltfremd und paranoid er wirkte, als er über seine Ideologie und seine angeblichen Beziehungen zu angeblichen Gleichgesinnten erzählen sollte, so konzentriert und selbstsicher legte er anschließend seine Gräueltaten dar. Es war, als sei er stolz darauf, dass ihm endlich etwas gelungen ist in seinem verpfuschten Leben.

Denn Breivik war eine gescheiterte Existenz, die sich mit ihrem radikalisierten Weltbild immer mehr isolierte. Das ist das Bild, das sich nach den Verhören der ersten Woche abzeichnet und das so gar nichts mit dem gloriosen Selbstbild des „Tempelritters“ zu tun hat, der aus Liebe zu Volk und Vaterland handeln musste, wie er handelte. Mit diversen Geschäftsvorhaben war Breivik gescheitert, aus der politischen Karriere wurde nichts, er zog, als 27-Jähriger, heim zu Mama. Er saß ein Jahr lang am Computer und spielte „World of Warcraft“, selbst am Neujahrsabend, 17 Stunden lang.


Fertig werden mit diesem Menschen. Er schildert das anders. Das Asoziale sei ein Schutzschild gewesen, das Computerspiel Selbstbelohnung des kommenden Märtyrers. Seit 2002, seit seinem Eintritt in die Loge der „Knight Templar“, habe er sich auf seine Aktion vorbereitet. Die Ankläger glauben, dass er seine Terrorpläne erst seit 2009 ausheckte, dann erst sein Pamphlet schrieb, indem er 60 Prozent des Textes aus anderen Schriften abkupferte. Dann kamen die Anschaffung der Waffen, das Training, die Bombe. Den abgelegenen Hof, den er als ideale Verschanzung sah, mietete er drei Monate vor der Tat.

„Er wirkt wie eine schwache Person, er hat keine Macht mehr über mich“, ist das Fazit von Bjørn Jacobsen über den Mann, vor dessen Kugeln er am 22. Juli 2011 flüchtete. Er ist zufrieden mit dem, was er sieht, auch wenn es „grausam“ ist, dem Mörder zuzuhören.

Viele in Norwegen hören ihm nicht zu. „Ich will ihn nicht ständig sehen“, ist der Tenor unter den Passanten in Oslo. Sie wollen endlich fertig werden mit diesem Menschen. Und doch hat er in allen eine Spur der Angst gesät, die nicht vergehen will: Was, wenn Breivik nicht lügt und es tatsächlich zwei weitere „Einzelzellen“ in Norwegen gibt, die nur darauf warten, zuzuschlagen?

Entmenschlicht

Anders Behring Breivik (33) berichtete bei seinen Anhörungen vor Gericht, wie er sich Gefühlskälte antrainiert und auf der Ferieninsel Utøya systematisch Jagd auf die Teilnehmer eines sozialdemokratischen Jugendlagers gemacht hat. Im Zentrum des Prozesses steht die Frage nach Breiviks Geisteszustand und seiner Schuldfähigkeit. Viele Angehörige der Opfer leiden darunter, wie Breivik im Gerichtssaal seine Gewalt und seine Weltsicht rechtfertigt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.04.2012)

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