An der Université Nanterre dominiert heute Polit-Frust

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Die politisch Interessierten an der Universität Nanterre wollen sich nicht mit einer Rolle als dekorative Claqueure zufriedengeben. In Nanterre hat vor 44 Jahren die Studentenrevolte begonnen.

Wer mit der Schnellbahn RER im Bahnhof Nanterre Université aussteigt, befindet sich unversehens in der Rue de la Folie (wörtlich übersetzt Straße des Wahnsinns). So irrwitzig muss es aber doch nicht sein, an dieser Universität im Westen von Paris zu studieren, haben es doch einige frühere Absolventen zu etwas gebracht: In Nanterre studierten unter anderem der jetzige Staatspräsident Nicolas Sarkozy und der Europa-Grüne Daniel Cohn-Bendit. Als diese hier Jura respektive Soziologie studierten, war diese Hochschule gerade erst gebaut worden. Alles war damals ganz neu und im Aufbruch – auf dem Gelände und in den Köpfen.
In Nanterre hat vor 44 Jahren wegen Protesten einer Gruppe unter Führung des „roten Dany“ die Studentenrevolte begonnen, die dann als „Mai 68“ in die Geschichte einging. Die primäre ursprüngliche Forderung dieser Rebellen ist längst erfüllt worden: Die Studentenwohnheime sind gemischt, und der Besuch im Zimmer der Kommilitoninnen ist erlaubt. Das ist aber nicht etwa schon alles, was vom Mai 68 übrig geblieben ist. Lydie Cassier, Sekretärin des präventivmedizinischen Diensts der Uni, verrät wie ein streng gehütetes Geheimnis, dass in einem Schrank ein Pflasterstein aus einer der damaligen Straßenschlachten aufbewahrt wird. Von Nahem betrachtet wirkt der „historische“ Steinbrocken allerdings desillusionierend banal.
Auch die jungen Erben jener 68er-Generation sind in Nanterre noch zugegen. Sie sind nicht zu übersehen oder zu überhören. Am Eingang zum Universitätsgelände verteilten nämlich Mitglieder der „Nouveau Parti Anticapitaliste“ (NPA) während der Wahlkampagne Flugblätter. Über ein Megafon gaben sie bekannt, dass ihr Präsidentschaftskandidat Philippe Poutou an diesem Tag am Mittag in einem Hörsaal im Gebäude D eine Wahlveranstaltung abhalten würde. Der weithin unbekannte Poutou war dann auch der einzige Kandidat, der im Wahlkampf persönlich zu ihnen kam.
Poutou, er ist normalerweise Autoarbeiter in einem Ford-Werk bei Bordeaux, erschien wie ein Starpolitiker, begleitet von mehreren Fernsehteams und Fotografen, was die rund 300 anwesenden Studierenden sehr amüsiert hat. Der Kandidat selber scherzte, er sei ein wenig verlegen, vor so vielen Leuten zu reden. Sein Programm spulte er ab wie am Fließband, er redete viel zu rasch, als sei ihm bewusst, dass seine Zeit knapp bemessen ist. Seine Kernaussage lässt sich auf den Slogan, der hinter ihm auf einem Spruchband stand, reduzieren: „Renversons le capitalisme!“ Das kapitalistische System sei nicht reformierbar, sondern müsse ausgehend vom Widerstand der Arbeiter bei einer Revolution gestürzt werden.

Poutou und die Randfiguren


Poutou gehörte in diesem ersten Wahlgang zu den drei oder vier Randfiguren. Wie seine ebenfalls trotzkistische Konkurrentin Nathalie Arthaud von „Lutte Ouvrière“, stagnierte er in den Wahlumfragen bei 0,5 bis 1,0 %. Er hat längst nicht das Charisma seines Vorgängers, des Briefträgers Olivier Besancenot, der 2002 und 2007 mehr als vier Prozent erhalten hatte.
Die meisten an der Uni Nanterre ließ die Wahlpropaganda kalt. Sie nahmen das Flugblatt entgegen, vielleicht haben sie es später gelesen oder gleich in den nächsten Papierkorb geworfen. Die Orientalistik-Studentin Sounia sagte vor der Wahl, sie würde „ganz bestimmt“ wählen gehen, gestand aber mit ein wenig schlechtem Gewissen, sie hätte sich bisher überhaupt noch nicht mit den Vorschlägen und den Kandidaten beschäftigt. Umgekehrt hätten sich die Politiker auch nicht speziell für die Hochschuljugend und ihre Berufsperspektiven interessiert, rechtfertigte sich Sounia.

Die Jungen als dekorative Statisten


Doch die politisch Interessierten in Nanterre waren nicht auf den Saal mit den NPA-Sympathisanten beschränkt. Die Jura-Studentin Séverine ist in der größten Studentengewerkschaft UNEF aktiv, die allen zehn Kandidierenden ein Manifest mit den zehn Forderungen zugestellt hat. „Ich habe mir die Debatten im Fernsehen angesehen und die Programme der Kandidaten gelesen, denn einige meiner Kollegen sind politisch organisiert – links bis Mélenchon und rechts bis Sarkozy – und ich will in der Diskussion mit ihnen mithalten können.“ Auch Séverine bedauerte das ihrer Ansicht nach zu geringe Interesse der Parteien für die Jugend: „Die Linken meinen, die Jungen seien ohnehin eher für sie, und die Rechten denken, es gebe da nicht viel zu gewinnen. Sie haben unrecht, denn die Jungen werden massiv wählen gehen!“ Am meisten noch gefalle ihr der Vorschlag des Sozialisten François Hollande, der mit einem „Solidaritätsvertrag der Generationen“ die Anstellung von Jungen und die Weiterbeschäftigung der Senioren fördern will. Engagieren will sie sich selber in der Kampagne aber nicht: „Die Jungen sind ja bloß als applaudierende und dekorative Statisten vorne bei Veranstaltungen gut genug“, kritisiert sie.
Erstaunlicherweise sagten in Nanterre alle Befragten, dass sie bestimmt wählen gehen oder, falls sie selber verhindert seien, sich durch Verwandte beim Urnengang vertreten ließen. Experten rechnen aber mit einer Rekordstimmenthaltung – vor allem bei der Jugend. Die Erstwähler, unter ihnen die meisten Studierenden, gehören laut „Le Figaro“ sogar zu den soziologischen Gruppen, die am wenigsten Interesse bekunden und dafür angeblich „weniger als andere ein schlechtes Gewissen“ hätten.
Der nationale UNEF-Vorsitzende Emmanuel Zemmour riet ihnen, sich bei den Präsidentschaftswahlen „nicht von blindem Vertrauen leiten zu lassen“. Er zog eine sehr kritische Bilanz der Hochschulpolitik der letzten Jahre: Der „Aufzug“ des sozialen Aufstiegs für die Generation funktioniere nicht mehr, er müsse dringend repariert werden. Besonders bedenklich ist für ihn der erneut wachsende soziale Graben beim Zugang zur höheren Bildung: „Der Anteil der Lizenziats-Studierenden aus sozial schwächeren Schichten ist von 2006 bis 2011 um fast zehn Prozent gesunken. Schlimmer noch: Die 18- bis 25-Jährigen haben im Durchschnitt fünfmal mehr Diplome als ihre Eltern, dennoch haben mehr als die Hälfte von ihnen nur prekäre Jobs statt feste Verträge wie 80 Prozent in den übrigen Alterskategorien.“ Mit 2,3 Millionen Studierenden ist der Zugang zur Universität in Frankreich zwar weitgehend demokratisiert worden, doch an der Schwelle zur Berufstätigkeit herrscht Gedränge in der sozialen Warteschlange.

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