Nach Sicherheitszusagen durch Chinas Behörden verlässt Bürgerrechtler Chen Guangcheng die US-Botschaft in Peking. Hillary Clinton hat sich persönlich für ihn eingesetzt.
Peking/Brüssel. Zwar haben chinesische Menschenrechtsaktivisten in den USA bereits am Dienstag anklingen lassen, dass eine Einigung um den in die US-Botschaft in Peking geflüchteten Bürgerrechtler Chen Guangcheng unmittelbar bevorsteht. Dass sich die chinesische Führung aber so wohlwollend gegenüber dem blinden Aktivisten zeigen würde, überraschte dann doch.
US-Außenministerin Hillary Clinton persönlich verkündete am späten Mittwochnachmittag, dass Chen nach Sicherheitszusagen der chinesischen Regierung das diplomatische Gelände der USA verlassen habe. Zudem sei ihr zugesichert worden, dass Chen eine Universitätsausbildung absolvieren dürfe. Clinton war extra zwölf Stunden früher als vorgesehen in Peking gelandet, um sich für den blinden Aktivisten einzusetzen.
Wirtschaftsgespräche mit USA
Am Donnerstag beginnen die vierten jährlichen Regierungsgespräche zwischen China und den USA über Wirtschafts- und Sicherheitsfragen. In Begleitung von US-Finanzminister Timothy Geithner will Clinton mit der chinesischen Führung über das massive Handelsungleichgewicht, Nordkorea und Syrien diskutieren. Die Flucht Chens in die US-Botschaft drohte diese Gespräche zu überschatten.
Chen Guangcheng ist in China ein bekannter Anwalt und gilt als einer der Schlüsselfiguren der chinesischen Bürgerrechtsbewegung. Der heute 40-Jährige hat sich die Juristerei selbst beigebracht und sich zunächst gegen Zwangsabtreibung im Zuge der chinesischen Ein-Kind-Politik eingesetzt. Immer wieder gelang es ihm, die Willkür der Behörden anzuprangern. Mitte der Nullerjahre verurteilte ihn ein chinesisches Gericht zu einer vierjährigen Haftstrafe, die im September 2010 eigentlich endete. Doch Sicherheitskräfte hielten ihn auch weiter in seinem Haus im Dorf Dongshigu in der Provinz Shandong fest. Am 22. April gelang ihm die Flucht. Unterstützer brachten ihn in die US-Botschaft in Peking.
Ein Mitarbeiter der US-Botschaft betonte am Mittwoch, dass es dem eigenen Wunsch des blinden Bürgerrechtlers entspricht, mit seiner Familie in China bleiben zu können. Die Volksrepublik habe versprochen, mit dem Regierungskritiker „menschlich umzugehen“, sagte der US-Beamte. Er wiederum versicherte, dass die USA den Fall Chen weiter im Blick haben und prüfen werden, dass die chinesische Führung sich an die Zusagen hält.
Die chinesische Führung zeigte sich verärgert über die USA. Der Sprecher des chinesischen Außenministeriums Liu Weimin wetterte, die US-Botschaft in Peking habe keine normalen Mittel angewandt, als sie den chinesischen Bürger Chen Guangcheng aufnahm. Dieses Vorgehen bedeute „eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ und sei „inakzeptabel“. Er forderte von den USA eine Entschuldigung, eingehende Ermittlungen, Strafmaßnahmen für die Verantwortlichen und eine Garantie, dass sich eine solche Angelegenheit nicht wiederholt. Ein US-Diplomat antwortete: „Das war ein außerordentlicher Fall mit außergewöhnlichen Umständen.“ Er erwarte nicht, dass sich das wiederhole. Chen hält sich nun in einem Krankenhaus im Pekinger Bezirk Chaoyang auf, wo seine Familie auf ihn gewartet hat. Auch für ihre Sicherheit werde gesorgt, versprach Clinton.
Keine Lust auf Pressekonferenz
Bei Auslandsbesuchen zeigen sich Chinas Politiker sensibel, wenn es um kritische Fragen zur Lage der Menschenrechte geht. Der designierte Regierungschef Li Keqiang wird heute, Donnerstag, in Brüssel nach seinem Treffen mit dem EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso keine Pressekonferenz geben. Nur eine gemeinsame Stellungnahme wird verlesen. Auch der sonst so gesprächige Barroso wird keine Fragen von Journalisten annehmen, erklärte seine Sprecherin am Mittwoch. „It takes two to tango“, fügte sie als Erklärung hinzu.
Der amtierende Regierungschef Chinas hat ebenfalls keine Lust auf einen gemeinsamen Tango vor westlichen Medien. Schon im Oktober 2010 hat Premier Wen Jiabao durchgesetzt, dass nach dem EU-Asien-Gipfeltreffen in Brüssel eine Pressekonferenz mit Barroso und Herman Van Rompuy, dem Präsidenten des Europäischen Rates, kurzfristig abgesagt wurde. Offizielle Begründung: Der Gipfel habe länger als geplant gedauert. Der wahre Grund: Die chinesische Delegation hatte spitzgekriegt, dass vier unabhängige chinesische Journalisten an der Pressekonferenz teilnehmen wollten. „Sie wissen nicht, welche Fragen ich stellen werde. Darum haben sie Angst vor mir“, sagte Yang Lixin, der für die Zeitung „Epoch Times“ und den TV-Sender NTDTV aus Brüssel berichtet, damals zur „Presse“.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.05.2012)