Abgestürzt: Die "Neuarmen" von Athen

Abgestuerzt Neuarmen Athen
Abgestuerzt Neuarmen Athen(c) REUTERS (YANNIS BEHRAKIS)
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Wo früher nur Flüchtlinge im Müll wühlten, suchen nun auch Griechen nach Verwertbarem. Von der heutigen Wahl erwarten sich die Menschen wenig. Bericht aus einem Land am Rand des kollektiven Nervenzusammenbruchs.

Die Anarchisten wollen die Ermou-Straße erobern. Am Ende der Flaniermeile sitzen schwarz gekleidete Gestalten auf einem Haufen Pflastersteine. Am nächsten Tag wird er verschwunden sein. Der Flashmob der Autonomen ist nur eine Drohung gegen die Luxusgeschäfte, denen die Kundschaft ohnehin davonläuft.

Wenige Meter entfernt sitzen die letzten Bohemiens auf der Terrasse des Café Bohème. Sie schlürfen an „Frozen Joghurts“ für 3,5 Euro und starren auf ein mit Brettern vernageltes Modegeschäft. Zwischen den Anarchisten schlängeln sich Passanten durch. Sie staunen über Rabatte bis zu 70 Prozent. Trotzdem gehen sie auf Abstand zu den Auslagen, als wären diese verhext. Es sind wohl die gleichen Menschen, die sich bekreuzigen, bevor die EC-Karte im Geldautomaten verschwindet.

Eleni Nikolaidou hat für Athens Noch-nicht-Arme einen Bestseller geschrieben. Die Historikerin staunt, dass ausgerechnet in der Krise ein Geschichtsbuch reißenden Absatz findet. Und es erschreckt sie. Eigentlich sollten ihre „Rezepte des Hungers“ über das darbende Athen im Zweiten Weltkrieg nur in ganz kleiner Auflage erscheinen. Denn der griechische Büchermarkt liegt am Boden. Doch immer mehr Griechen wollen 12,99 Euro ausgeben, um nachzulesen, wie sich mithilfe von Auberginen und Reis ein Fleischersatz herstellen lässt. Mittlerweile kommt Nikolaidous-Verlag mit dem Drucken kaum noch nach.

Die Autorin sitzt in einem Sessel in ihrer Wohnung am Dafne-Platz. Hierher würden sich die Anarchisten nicht trauen. Denn die Stalinisten von der KKE, der niemals bekehrten griechischen kommunistischen Partei, beherrschen die Straßen mit ihrem Hammer- und Sichelemblem und ihren Aktivisten. Ein Wahlplakat der Konservativen oder der Sozialdemokraten findet sich nirgendwo in dem bürgerlichen Wohnviertel. „Wer das aufhängt, muss damit rechnen, dass wir Tomaten nach ihm schmeißen“, sagt die Schriftstellerin. Ihre Wohnung riecht nach alten Büchern und Zeitungen.

Geplatzte Illusion

Der riesige Fernseher im Wohnzimmer wirkt wie ein Stilbruch. „Den wollte mein Mann noch 2009 haben, weil er Fußballfan ist“, sagt Nikolaidou. Sie hat ihr Buch an ihrem Schreibtisch geschrieben, das ungeliebte Ungetüm im Blick. Für die Schriftstellerin ist es ein Symbol geworden für die Stimmung im Land. Die Griechen hatten sich über Jahrhunderte in ihrer Armut eingerichtet, sagt sie. Dann kamen in den 1980er-Jahren mit dem EG-Beitritt bescheidener Wohlstand und westeuropäisches Konsumdenken ins Land. Im neuen Jahrtausend wurden die Kredite mit dem Euro auf einmal unglaublich billig. Viele Griechen erlagen der rauschhaften Idee, dass es mit der neuen stabilen Währung nur noch aufwärts gehen könne. 2010 platzten mit der Schuldenkrise zuerst die Illusionen. 2011 kam dann mit Massenentlassungen und Lohnkürzungen von bis zu 25 Prozent die nackte Not. „Jetzt sitzen die Griechen vor ihren Flachbildschirmen und denken darüber nach, wie sich Hunger anfühlt. Wir haben das schon vergessen“, sagt Nikolaidou.


Obdachlose statt Anzugträger. 2011 hat sich die Zahl der Obdachlosen in Athen vervielfacht. Die Stadtverwaltung spricht davon, dass 20.000 der zirka 655.000 Athener auf der Straße leben. Die Not hat die Uhren zurückgestellt: So viele Armenküchen wie heute gab es in Athen seit dem Ende des Bürgerkriegs 1949 nicht mehr. Wer tagsüber im Stadtzentrum vom Omonia-Platz zum Parlament auf dem Syntagma-Platz spaziert, sieht Menschen in Mülleimern wühlen. Die Stufen der Banken an der Stadiou-Straße gehören nicht mehr den Anzugträgern mit ihren Smartphones. Stattdessen sitzen Obdachlose auf den Stufen herum. Manchmal sind es Männer mit Markenturnschuhen oder Frauen mit Lederhandtaschen. Sie sehen aus, als hätten sie sich bloß in die Armut verirrt. Die Athener nennen die Abgestürzten aus der Mittelschicht „Neuarme“.

Der Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen führt für die Athener am alltäglichen Elend vorbei. Wenn sie den Fernseher einschalten oder die Zeitung aufschlagen, erfahren sie Neues vom Niedergang ihres Landes. Eleni Nikolaidou nennt das den täglichen Terror der schlechten Nachrichten. Die Autorin schaltet sogar immer öfter das Handy aus. Sie hat via SMS vom Selbstmord eines Bekannten erfahren. „Kein Wunder, dass die Menschen mittlerweile alles für möglich halten. Deshalb kaufen sie ja auch mein Buch.“

Die Athener müssen nur mit der Metro eine halbe Stunde Richtung Süden nach Piräus fahren, wenn sie ein Griechenland sehen wollen, in dem die Mittelschicht schon so gut wie verschwunden ist. Die Schifffahrt hatte den größten Passagierhafen Europas groß gemacht. Die Pleite vieler Reedereien 2011 riss die Stadt grausam in den Abgrund. Mit dem Bus geht es weiter nach Perama. An den Hang geschmiegt, lebten diejenigen, die es sich leisten konnten, gut in Eigenheimen: Autohändler oder Inhaber mittelständischer Betriebe, die ihr Geld in Piräus verdienten. Die weiß gestrichenen Fassaden der Häuser glänzen wie eh und je in der Sonne. Dahinter hat sich aber 2011 die Armut eingenistet. Denn die arbeitslosen Werftarbeiter aus der Hafenstadt gaben kein Geld mehr aus für Autos oder Fernseher. Die Mittelständler aus Perama verloren zuerst ihre Betriebe und dann ihren Stolz.

Keine Zeit für Politik

Ionnas Stavropoulis (Name geändert) wartet in der Poliklinik von „Ärzte der Welt“, dass Eleni Titkova ihm die Blutdruckmittel in die Hand drückt, die er nicht mehr bezahlen kann. Seine Krankenkasse hat ihn rausgeworfen, weil er keine Beiträge mehr zahlt. Jetzt hilft die internationale Ärzteorganisation, für die Titkova als Freiwillige arbeitet. 1998 ist die Russin schon einmal einer Finanzkrise entkommen. Damals brachen in Moskau die Banken zusammen: „Ich ziehe das wohl irgendwie an“, sagt sie, während sie die Manschette des Blutdruckmessgeräts aufpumpt. Eigentlich vermitteln „Ärzte der Welt“ Mediziner aus Europa in Krisengebiete wie Afghanistan oder Irak. Die junge Ärztin wollte 2009 nach Uganda. Dann kam die Krise, und die griechische Hilfsorganisation eröffnete neue Kliniken – nicht mehr in Afrika, sondern zu Hause.

Zunächst ging es in Perama um Hilfe für Flüchtlinge ohne Papiere. Sie fielen nach 2010 als Erste durchs soziale Netz. Doch die Illegalen verließen Piräus nach und nach, weil die Werften nicht einmal mehr Jobs für Schwarzarbeiter hatten. Stattdessen klopften die Griechen an die Tür. Zunächst Werftarbeiter aus Piräus, dann die Menschen aus der reicheren Nachbarschaft. Sie brachten ihre Wohlstandskrankheiten mit, für die keine Krankenkasse mehr zahlt. Titkova ist sich nicht sicher, ob das so bleibt. „Ärzte schließen Wetten ab, wann die Tuberkulose kommt, und wann die ersten Menschen in der Metro vor Hunger umfallen.“

Ionnis Stavropoulis schüttelt den Kopf. „So weit ist es mit uns gekommen.“ Er spricht leise, als würde er Geheimnisse erzählen. Dabei sitzen seine Nachbarn nebenan im Wartezimmer, und er muss ihnen nichts mehr vormachen. Der Mann Anfang fünfzig hatte das Pech, dass er 2009 einen Bypass brauchte. Danach konnte er nur noch mit halber Kraft arbeiten, sagt er. Deshalb gehörte er 2010 zu den Ersten, die pleitegingen, und 2011 war er wieder einer der Ersten, die ganz ohne Ersparnisse dastanden. Bei der heutigen Wahl wird der 53-Jährige sein Kreuzchen nicht wie vor der Krise bei den Konservativen machen: „Ich werde meine Fehler korrigieren“, sagt er. Das heißt, dass seine Stimme nur eine der neuen Parteien bekommt, die mit der alten Korruption und der unglaublichen Verschwendung nichts zu tun hatte.

Elena Titkova trinkt erst einmal einen Schluck Kaffee und überlegt, was sie sich von der Wahl erwartet. Draußen warten ihre Patienten bis einen halben Block von der Klinik entfernt in der Schlange. „Ich wünschte, ich könnte mir über Politik Gedanken machen, aber ich habe einfach keine Zeit.“ Sie setzt ihre Tasse wieder ab.

In der Straßenbahn zurück ins Zentrum ist es leicht, einen Sitzplatz zu finden. Die Griechen meiden inzwischen die Metro, wo sie können. Sie erledigen Einkäufe zu Fuß und schieben Arztbesuche auf, für die sie längere Strecken zurücklegen müssten. Ein Ticket von Piräus zum Attika-Platz im Athener Norden kostet 1,40 Euro. Christos Kostopoulos verdient nach Abzug der Steuer 650 Euro im Monat in einer Kaffeebar. Eigentlich ist er Soziologe. Nach seinem Examen hat er viele Bewerbungen geschrieben, doch keine einzige für eine Stelle, die etwas mit seinem Studienfach zu tun hat. Weil es keine gab. Als Student hat er in einem Café gejobbt. Es hat längst zugesperrt, und der 26-Jährige verdient jetzt nach einem Jahr Arbeitssuche fünf Euro mehr als während des Studiums.


Überlebenskampf. Kostopoulos hat vor der Metrostation beim Attika-Platz die Kapuze seines blauen Jogginganzugs tief ins Gesicht gezogen. Er will nicht von jedem erkannt werden in seinem Quartier mitten in der Innenstadt. Agios Panteleimon war einmal ein ruhiges Viertel mit vielen Pensionisten, einigen Studenten und wenigen Flüchtlingen auf der Durchreise nach Westeuropa. Nach der Jahrtausendwende blieben die Illegalen zurück, weil andere EU-Staaten wie Deutschland sie nicht mehr ins Land ließen. Nach 2010 hat die Krise zu einem Überlebenskampf zwischen den Rentnern und ihren ausländischen Nachbarn geführt. Denn mittlerweile wühlen Griechen in denselben Mülleimern nach Essen wie die Flüchtlinge aus Afrika oder Irak.

Im Oktober 2010 explodierten die Spannungen, als Einheimische die neofaschistische „Goldene Morgendämmerung“ nach dem Raubmord an einem Pensionisten zu Hilfe riefen. Es folgte eine Hatz auf Ausländer durch die Straßen des Viertels. Sie hat seitdem eigentlich nicht mehr aufgehört, sagt Kostopoulos. Jetzt können sich die Neonazis Hoffnung machen, dass bei der heutigen Wahl im Klima des Fremdenhasses und der antieuropäischen Reflexe für sie tatsächlich der Morgen dämmert. Laut Umfragen dürften sie ins Parlament kommen. Deshalb will Kostopoulos wählen gehen. „Ich erwarte mir keine Besserung meiner Lage, aber jeder, der bei der Wahl zu Hause bleibt, macht es den Faschisten leichter, ins Parlament zu kommen.“

Rund um den Attika-Platz haben die Rechtsextremen bereits triumphiert: An die Hauswände haben sie ungeniert Hakenkreuze geschmiert. Die Polizei ist nicht mehr Herr der Lage. Sie lässt die Faschisten gewähren, die auf ihre Art für „Ordnung“ sorgen. Direkt auf dem Platz lungern sie mit kurz geschorenen Haaren an einer Bushaltestelle herum. Zwei Schwarzafrikaner schieben hastig eine Schubkarre mit Trödel an ihnen vorbei. Die Skins erheben sich von der Plastikbank, eine Bierflasche fliegt in Richtung der Afrikaner. Auf der anderen Straßenseite spuckt eine blonde Frau auf den Boden und keift den Schwarzen hinterher. Christos zieht die Kapuze tiefer ins Gesicht und biegt schnell in eine Gasse ab. Er ist es mittlerweile gewohnt, in seinem Quartier Schleichwege zu nehmen, um den Skinheads aus dem Weg zu gehen. Denn für sie ist jeder ehemalige Student ein Linker. Trotzdem ist Kostopoulos froh über seine Wohnung im Viertel der Rechten. „Ich zahle 150 Euro Miete für zwölf Quadratmeter. Dann bleiben 500 Euro für Essen. Das sind 15 Euro am Tag.“

Flucht aufs Land

Eine Packung Nudeln kostet im Supermarkt 79 Cent, einen Espresso gibt es in der Innenstadt schon für 1,50. Langsam passt die Gastronomie ihre Preise den veränderten Realitäten an. Genau deshalb fürchtet Kostopoulos, dass die Rechnung mit den 15 Euro nicht mehr lange aufgehen wird. „So wie die Umsätze aussehen, werde ich meinen Job verlieren.“ Das Tempo der Krise lässt dem jungen Akademiker keine Zeit, irgendetwas für sicher zu halten. In nur zwei Jahren hat die Krise das Land völlig auf den Kopf gestellt. Er kann sich erinnern, dass er und seine Freunde einst mit 15 Euro aus dem Haus gingen, um ein paar Bier nach der Vorlesung zu trinken. Dann sprachen sie zum Beispiel über das Reisen oder ein Auslandssemester, so wie sie heute über das Auswandern diskutieren. Diese Zeiten sind erst drei Jahre her – und doch eine Ewigkeit. Die Unsicherheit raubt der Jugend den Glauben an ein Leben, das aus etwas anderem besteht als Einschnitten. Der junge Akademiker hält es für realistischer, dass er sich eines Tages auf dem Land von ein paar Tomaten und Oliven selbst versorgt als in Athen einer Arbeit jenseits des Niedriglohnsektors nachzugehen. Schon jetzt fliehen viele seiner ehemaligen Kommilitonen aus der Stadt und versuchen sich jenseits der zusammengebrochenen Marktwirtschaft an neuen Lebensformen auf dem Land. Eine Heirat oder Kinder, das sieht Christos Kostopolous in seiner Zukunft nicht mehr. „Meine Freundin und ich werden neue Wege finden, um miteinander zu leben“, sagt er. Das gilt wohl für die meisten Griechen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.05.2012)

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