Die Nato kämpft gegen eine Doppelkrise

(c) AP (Pablo Martinez Monsivais)
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60 Staatschefs versprechen, Afghanistan nach dem Abzug nicht im Stich zu lassen. Auf dem Spiel steht auch die Zukunft der Allianz, die zudem finanziell unter Druck gerät.

Chicago. Über den Wolkenkratzern von Chicago kreisten Hubschrauber. Ganze Straßenzüge im Zentrum der Millionenmetropole blieben abgesperrt, dahinter protestierten die Maskenmänner von „Occupy“. Die Bühne war bereit für Barack Obama, den US-Präsidenten im Wahlkampf.

Sonntags um halb zwei Uhr Ortszeit sollte er den Nato-Gipfel in seiner Heimatstadt eröffnen. 28 Mitglieder hat das Verteidigungsbündnis, doch der Einladung an den Lake Michigan war auch der erweiterte Freundeskreis gefolgt: insgesamt rund 60 Staats- und Regierungschefs. Es ist das größte Treffen, das die transatlantische Allianz jemals abgehalten hat.

Die Verträge und Erklärungen waren aufgesetzt, noch ehe die erste Rede im McCormick-Zentrum erklang. Afghanistan stand ganz oben auf der Agenda. Bis Ende 2014, 13 Jahre nach Kriegsbeginn, sollen die internationalen Kampftruppen aus dem Hindukusch abgezogen sein. In Chicago wollte sich die Nato noch einmal darauf einschwören, die Afghanen auch danach nicht im Stich zu lassen.

Angst vor Fiasko wie nach 1989

Eine Wiederholung der Katastrophe, die das gepeinigte Land nach dem Abmarsch der Sowjettruppen 1989 heimgesucht hat, soll vermieden werden. Afghanistan dürfe nicht wieder im Bürgerkrieg versinken oder in die Hände der radikalen Taliban fallen und zum Unterschlupf für Terroristen der Marke al-Qaida werden, wiederholt die Nato mantrahaft und verscheucht damit ihre eigenen Zweifel. Die Afghanistan-Mission ist alles andere als ein Erfolg, doch zugeben will das in der Allianz keiner.

Für Sicherheit am Hindukusch sorgen soll ab Dezember 2014 – auch da lässt sich die Skepsis kaum unterdrücken – ausschließlich die afghanische Armee, die schon im Oktober dieses Jahres 195.000 Mann umfassen soll.

Die Nato will sich jedoch auf ihrem Gipfel verpflichten, die afghanischen Soldaten und Polizisten auch nach 2015 weiter auszubilden und finanziell zu unterstützen. Da möchte auch der neue französische Präsident, François Hollande, mitmachen. Seine Kampftruppen jedoch wird er, wie im Wahlkampf versprochen, schon heuer aus Afghanistan abziehen.

Ressourcen stärker teilen

Die Geldspritze für die afghanischen Streitkräfte sollte sich auf 4,1 Milliarden Dollar pro Jahr belaufen. Schon vor dem Nato-Treffen hatten die Amerikaner eine Kollekte gestartet. In Chicago sollten die einzelnen Mitglieds- und Partnerländer die Höhe ihrer Daueraufträge bekannt geben. Die Summe, so viel schien schon vor der abschließenden Addition klar zu sein, dürfte unter den Erwartungen bleiben.

In Zeiten der Finanzkrise schrumpfen die Budgets, vor allem in den Verteidigungsetats. Der neue Spardruck spielt auch stark in das zweite Hauptthema des Nato-Gipfels hinein: den Aufbau militärischer Fähigkeiten. Am Sonntag unterzeichneten Nato-Mitglieder einen Vertrag über ein neues gemeinsames Bodenüberwachungssystem mithilfe unbemannter Drohnen. Die Milliardenkosten will man sich teilen. „Smart Defence“, „kluge Verteidigung“, lautet das Schlagwort, das der dänische Nato-Generalsekretär bei jeder Gelegenheit fallen lässt.

Hinter dem neuen Slogan steckt die alte Idee, dass sich Kosten senken lassen, wenn die Mitglieder des Klubs ihre Ressourcen zusammenlegen und gemeinsam daraus schöpfen. Mehr als 20 Kooperationsprojekte hat die Allianz auf den Weg geschickt, darunter die gemeinsame Luftraumüberwachung im Baltikum.

Grünes Licht für Raketenabwehr

Grünes Licht gibt das Bündnis in Chicago auch für die „Anfangsbefähigkeit“ des Raketenschutzschirms. In einer ersten Phase wird es möglich sein, in einem begrenzten Radius Raketen dank einer Radarstation in der Türkei und durch Systeme abzuwehren, die auf US-Militärschiffen in Spanien installiert sind. Russland freut das nicht. Es fühlt sich noch immer bedroht durch den Schild, der nach Angaben der Nato mögliche Angriffe von Staaten wie dem Iran abschmettern soll. Vizeverteidigungsminister Anatoli Antonow forderte unmittelbar vor Beginn des Nato-Gipfels Sicherheitsgarantien für Russland.

Afghanistan, der Aufbau neuer möglichst militärischer Fähigkeiten und die Vertiefung von Partnerschaften (siehe unten): Die Nato stürzt sich bei ihrem Gipfeltreffen in Chicago in hektische Betriebsamkeit. Vielleicht auch, um sich dadurch von den großen Identitäts- und Sinnfragen abzulenken, die sich die transatlantische Allianz spätestens nach dem Ende der gescheiterten Afghanistan-Intervention stellen wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2012)

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