Pentagon setzt Alliierte unter Zugzwang

Hohe Militärs monieren die "Zweiklassengesellschaft" innerhalb der Nato. USA fordern Lektionen aus Libyen-Krieg.

Washington. Das Schreiben aus dem Pentagon war an die republikanischen Senatoren John McCain und Lindsey Graham adressiert. Der Brandbrief des US-Verteidigungsministers Leon Panetta war aber gar nicht so sehr an das wehrhafte Republikanerduo als vielmehr an die ganze Nation gerichtet: ein drastischer Weckruf. Der Minister malte darin die Konsequenzen eines rigorosen Sparkurses für die Streitkräfte aus. „Wir hätten die wenigsten Bodentruppen seit 1940, die geringste Zahl an Schiffen seit 1915 und die kleinste Luftwaffe unserer Geschichte.“ Das Militär würde ausgehöhlt, warnte Panetta. „Es ist wie ein Schiff ohne Seeleute, eine Brigade ohne Munition, ein Luftwaffengeschwader ohne genug ausgebildete Piloten – ein Papiertiger.“

Präsident Obama hatte den 73-Jährigen mit einer heiklen Mission betraut: Er ist dazu ausersehen, den im Zuge des Afghanistan- und des Irak-Kriegs immer weiter aufgeblähten Verteidigungsetat zusammenzustreichen.

Seit den Terroranschlägen des 11.September 2001 und unter dem Eindruck einer immanenten Terrorgefahr hatte er sich verdoppelt, mit rund 550 Milliarden Dollar nimmt er ein Viertel des jährlichen US-Gesamtbudgets ein. Die laufenden Kosten für die beiden Kriege, die mit Sonderbudgets finanziert werden, sind dabei noch gar nicht inkludiert. Allein der Afghanistan-Krieg summierte sich 2011 auf 120 Mrd. Dollar.

Kahlschlag

In einer ersten Sparrunde sollte das Pentagon 450 Mrd. Dollar in einem Zeitraum von zehn Jahren kürzen. Überdies soll 2013 ein Automatismus in Kraft treten: eine Kürzung von zehn Prozent für alle Ressorts und Regierungsprogramme mit Ausnahme der Sozialleistungen. Der Kahlschlag träfe das Pentagon am härtesten, es würde mit einem Federstrich noch einmal 600 Mrd. Dollar im Lauf eines Jahrzehnts einbüßen. Damit wären nicht nur ambitionierte Rüstungsprojekte gefährdet, sondern auch die Verteidigungsbereitschaft des Landes, wie führende Militärs meinen. Die Marine würde mehr als ein Sechstel ihrer Armada verlieren, die Luftwaffe 400Kampfflugzeuge. Bis zu 200.000 Soldaten – und noch einmal so viele Zivilangestellte des Verteidigungsministeriums – würden laut einem internen Pentagon-Szenario arbeitslos.

Panettas Vorgänger, Robert Gates, war die üppige Pentagon-Bürokratie stets ein Dorn im Auge. Die Zahl der Militärmusiker übertreffe die der Mitarbeiter des US-Außenministeriums, monierte er. Gates agierte aber auch gern als Kassandra-Rufer. Eine Schrumpfung des US-Militärs würde unweigerlich das Selbstverständnis der USA als internationale Schutzmacht und „Krisenfeuerwehr“ beeinträchtigen. Selbst bei radikalen Sparmaßnahmen würden jedoch die militärische Vormacht und die technologische Überlegenheit unangetastet bleiben.

Betriebsstörung

Für Europa bleibt die Spardebatte in den USA nicht ohne Folgen. Die Spannungen im Hinblick auf Truppenstärke und Beitragsleistung der Europäer sind ein Begleitgeräusch im transatlantischen Getriebe. Dass Europa auch militärisch auf eigenen Füßen stehen müsse und nicht stets auf die US-amerikanische Feuerkraft vertrauen dürfe, ist allgemeiner Tenor in Washington.

Zwar stieß die Führungsrolle der Briten und Franzosen im Libyen-Krieg auf positives Echo, zugleich offenbarte er jedoch die logistische und technologische Abhängigkeit von den USA. Ohne Tomahawk-Raketen, ohne die Luftraumüberwachung und die Geheimdienstinformationen der Amerikaner hätte sich der Krieg hingezogen.

Gates hielt den europäischen Alliierten des Öfteren Standpauken. Die USA würden nicht ewig für die Sicherheit der Europäer aufkommen. Er prophezeite dem Bündnis eine „kollektive militärische Irrelevanz“ und sprach von einer „Zweiklassengesellschaft“ innerhalb der Allianz, und zwar denjenigen, die die Last schultern und einen hohen Blutzoll zahlen, und den „Trittbrettfahrern“. Unter US-Militärs in Afghanistan geht der Scherz um, das Kürzel Isaf für die internationale Schutztruppe unter US-Kommando stehe für „I Saw Americans Fighting“.

Die USA tragen drei Viertel der Nato-Ausgaben. Nur vier europäische Staaten stecken dagegen vereinbarungsgemäß zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung: die beiden militärischen Großmächte Großbritannien und Frankreich sowie paradoxerweise Albanien und Griechenland. Der Afghanistan-Veteran und Sicherheitsexperte Andrew Exum ätzte, Washington finanziere solcherart das europäische Wohlfahrtssystem.

(Gekürzte Version eines Beitrags für den Sammelband „Sicherheit und Strategie 2012“ des Verteidigungsministeriums.)

Auf einen Blick

550 Mrd. US-$

Das ist der Umfang des US-Verteidigungsetats. Das entspricht einem Viertel des jährlichen US-Gesamtbudgets.

120 Mrd. US-$

So viel hat der amerikanische Einsatz in Afghanistan im Vorjahr gekostet.

600 Mrd. US-$

Im Lauf von zehn Jahren muss der Pentagon ab 2013 automatisch einsparen, falls es keine politische Einigung über ein Sanierungsprogramm gibt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2012)

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