Kepel: „Es könnte bald schwere Revolten geben“

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Ägyptens nächster Präsident wird es schwer haben, glaubt Nahost-Experte Gilles Kepel: Die Devisen gehen zur Neige, die Sprit-Subventionen sind unfinanzierbar.

Die Presse: Ägypten wählt einen neuen Präsidenten. Ein historischer Tag oder nur eine weitere Etappe zu mehr Instabilität und Frustration?

Gilles Kepel: Beides. Ohne Zweifel gibt es eine große Begeisterung im Land über diese Wahl. Zum ersten Mal seit Menschengedenken wählen die Ägypter ihren eigenen Präsidenten – das ist ein historischer Moment. Die Abstimmung ist zudem verknüpft mit dem Bewusstsein, dass dieser Präsident dem Volk voll verantwortlich ist und auch wieder abgewählt werden kann. Es wird also schwierig sein, zum alten, von oben oktroyierten Machtsystem zurückzukehren.

Und was ist die Kehrseite der Medaille?

Eine funktionierende Demokratie braucht starke Institutionen, gebildete Bürger, sonst kann aus Demokratie schnell Demagogie werden. Davon ist Ägypten nicht weit entfernt. Die Programme aller Kandidaten sind total unrealistisch, voll von Slogans und ohne jede Vorstellung, wie die Versprechungen in die Tat umgesetzt werden sollen. Keiner der in den Umfragen führenden Bewerber entstammt dem Milieu der Revolutionäre vom Tahrir-Platz. Stattdessen liegen zwei Islamisten und zwei ehemalige Regimegrößen vorn.


Was kommt nach der Wahl auf Ägypten zu?

Der neue Präsident wird an seinen Versprechungen gemessen werden. Er muss liefern – aber er wird es nicht können. Auch steht nicht fest, welche Kompetenzen der neue Staatschef haben wird im Verhältnis zum Parlament und zur Armee. Eine neue Verfassung existiert noch nicht. Gleichzeitig gehen die Devisenreserven zur Neige und die Benzinkrise dauert an. Die hohen Subventionen für Sprit sind untragbar geworden. Es ist Erntesaison, es könnte schon bald Hunger geben und schwere Revolten.

Hat Ägypten die Kapazität, eine Demokratie zu etablieren?

Ägypten hat diese Kapazität, aber es wird lange dauern. Zum Beispiel auf dem Land und in den Dörfern wird sich so schnell nichts ändern. Hier tritt die Muslimbruderschaft in die Stapfen der alten Nationaldemokratischen Partei von Hosni Mubarak. Es gab in Ägypten immer eine Art doppelten Staat – den offiziellen des Mubarak-Regimes, mit Außenpolitik, Armee und der großen Wirtschaftspolitik. Und den Schattenstaat der Muslimbruderschaft bei Erziehung, Gesundheit und Sozialfürsorge. Das hat den Muslimbrüdern bei der Parlamentswahl viele Stimmen eingetragen. Sie haben aber auch die gleiche autoritäre Mentalität entwickelt wie das gestürzte Regime – und sind in gewisser Weise ein Spiegelbild des alten Systems.

In den Golfstaaten gibt es ähnliche Frustrationen wie in den Staaten des Arabischen Frühlings. Warum gab es dort kaum Aufbegehren?

Die Antwort hat zwei Buchstaben: Öl. Das sind superreiche Rentierstaaten, ihre Taschen füllen sich mit Geld wie nie zuvor. Die Emire und Monarchen erkaufen sich den sozialen Frieden. Anders ist die Lage in Syrien und im Libanon. Wie es aussieht, geht das Assad-Regime aus dem Konflikt möglicherweise nicht nur militärisch, sondern auch politisch gestärkt hervor.

Damit aber wird es sehr einsam um das revolutionäre Ägypten. Tut Europa genug, um Ägypten und Tunesien auf ihrem Weg zur Demokratie zu helfen?

Europa ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, alles Geld wird für Athen gebraucht. Darum hofft man in den EU-Staaten, dass die Golfaraber jetzt den Ägyptern das Benzin liefern und ihre Riesenlöcher im Staatshaushalt stopfen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.05.2012)

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