Nigeria: Im Schmelztiegel der 250 Völker

Nigeria Schmelztiegel Voelker
Nigeria Schmelztiegel Voelker(c) APA/photonews.at/Georges Schneid (Photonews.at/Georges Schneider)
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Nigeria ist voller Gegensätze. Hier leben Christen und Muslime und Arm und Reich beieinander. Täglich verlassen das Land unzählige Männer wie Vincent, um ihr Glück in Europa zu versuchen.

Vincents Augen werden feucht. „All meine Freunde, all mein Glück. Ich musste das alles in Österreich zurücklassen.“ Der 31-jährige Mann atmet tief durch. „Ich vermisse meine Freunde in Österreich. Seit ich von dort weg bin, bin ich nicht mehr ich selbst.“ Es war kein einfaches Leben gewesen, das Vincent in Österreich geführt hatte. Er hatte Straßenzeitungen verkauft und in Flüchtlingsheimen gewohnt. „Aber ich hatte dort meinen Frieden gefunden.“ Damit war es im Jänner 2011 vorbei. Vincent wurde in seine frühere Heimat Nigeria abgeschoben. Jetzt lebt er in der Großstadt Lagos, im Viertel Ajegunle, ohne Job, ohne Geld und ohne fixe Unterkunft. „Ajegunle ist eine gefährliche Gegend. Es ist keine Gegend, in die man ausländische Besucher führen könnte“, sagt er. Deshalb hat er einen langen Weg zum Treffpunkt in einem sichereren Viertel der afrikanischen Megacity in Kauf genommen.

Vincent hat noch immer Schmerzen, spürt noch immer seine Verletzungen, die er sich 2008 in Österreich zugezogen hat. Der Nigerianer wohnte damals in einem Flüchtlingsheim in Klagenfurt. Am 12. Juni 2008 brach ein Brand in dem Heim aus. Eine Person starb, 19 weitere wurden verletzt. Vincent war zum Fenster gestürmt, hatte es aufgerissen, um nicht am Rauch zu ersticken, wurde bewusstlos und fiel aus dem zweiten Stock. Er brach sich ein Bein und mehrere Rippen. Die Hintergründe des Brandes wurden bis heute nicht aufgeklärt. Der Klagenfurter Staatsanwalt Christof Pollak war der Ansicht, es könnte ein Anschlag gewesen sein.

Gefährliche Überfahrt nach Italien. Vincent war in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Europa gekommen. Er hatte eine gefährliche, zweimonatige Reise auf dem Landweg nach Libyen auf sich genommen und hatte von Tripolis mit einem Boot nach Italien übergesetzt. Dann schlug er sich nach Österreich durch. Er hatte darauf geachtet, nicht straffällig zu werden und gehofft, bleiben zu dürfen. Doch sein Antrag auf Asyl hatte keine Chance. Vincent galt als „Wirtschaftsflüchtling“ und deshalb musste er zurück. Vincent stammt aus einem Dorf im Imo-State im Süden Nigerias. Doch seit seiner Abschiebung hängt er in Lagos fest. Die Stadt ist ein Moloch, der schon viele verschluckt hat.

Lagos hat mehr als zehn Millionen Einwohner. Durch die Stadt ziehen sich Slums, heruntergekommene Viertel und gefährliche Gegenden wie Ajegunle, wo Vincent nun wohnt. Doch Lagos ist zugleich ein pulsierendes Business-Zentrum im Westen Afrikas. Hier haben sich Banken und Industrie niedergelassen. Die Mietpreise in den wohlhabenden Zonen der Stadt zählen zu den höchsten der Welt. Lagos ist berühmt für seine Filmindustrie und seine Modeszene. Hier liegen bittere Armut und extremer Reichtum nahe beieinander. Die Stadt scheint wie ein gigantischer Schmelztiegel, in dem sich all die Schönheit und die Tragik Nigerias vermischen.

Das Land ist der größte Erdölproduzent Afrikas. Daneben verfügt es über große Erdgasvorkommen, die bisher aber weitgehend ungenutzt blieben. Seit 2007 wächst die Wirtschaft um etwa sechs bis sieben Prozent pro Jahr. Nigeria zählt damit zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. „Nigeria verfügt über große Potenziale“, sagt Wolfgang Goetsch, Manager der Baufirma Julius Berger, die schon seit 1966 in dem afrikanischen Land tätig ist. Wenn er von Potenzialen spricht, denkt Goetsch nicht an die Erdölindustrie. Er denkt an Möglichkeiten in der Landwirtschaft und er denkt an die Menschen Nigerias. „Es sind sehr fleißige Leute, mit großer Kraft und Wissbegierde.“

Mangel an Elektrizität. Doch zugleich muss sich Nigeria mit einer Inflationsrate von etwa zwölf Prozent herumschlagen. Es leidet unter einem Mangel an Infrastruktur und chronischer Knappheit an Elektrizität. Und in Nigerias staatlichen Institutionen grassiert die Korruption. Es ist nicht einfach, den riesigen Staat zu verwalten und zusammenzuhalten. Auf einer Fläche von mehr als 900.000 Quadratkilometern leben fast 170 Millionen Menschen. Sie gehören 250 verschiedenen Völkern und ethnischen Gruppen an. Die kulturellen Unterschiede innerhalb des Landes sind größer als innerhalb Europas. Und trotzdem haben es die Nigerianer bisher geschafft, einen gemeinsamen Staat am Leben zu erhalten. Die internen Fliehkräfte sind zuletzt aber gewachsen.

Dafür sind vor allem die Extremisten der islamistischen Sekte Boko Haram („Westliche Bildung ist Sünde“) verantwortlich. Die Untergrundgruppe hat ihre Rückzugsräume im Norden des Landes und verübte in den vergangenen Jahren zahlreiche Terroranschläge. Ihr Arm reichte dabei bis in die Hauptstadt Abuja. Boko Haram nahm auch Kirchen im Norden ins Visier. Ayo Oritsejafor, der Präsident der Christlichen Vereinigungen Nigerias (CAN), sieht in den Umtrieben Boko Harams den Beweis für wachsende Spannungen zwischen Nigerias Christen und Muslimen. „Das wirkliche Problem ist die Religion. Alle anderen Konflikte überdecken das nur“, sagt der Pastor, der der „Word of Life Bible Church“ angehört. In Nigeria sprießen evangelikale Kirchen aus dem Boden. Die Gründung solcher neuen christlichen Glaubensgemeinschaften ist ein gutes Geschäft. Und einige von ihnen machen durch aggressive Missionierung und Dinge wie Dämonenaustreibungen von sich reden. Die traditionellen christlichen Kirchen beobachten das mit Argwohn.

Im Sultanat von Sokoto. Der katholische Bischof von Abuja , John Onaiyekan, will nicht so weit gehen wie Pastor Oritsejafor. Er will nicht von einem Konflikt zwischen Christen und Muslimen sprechen. Und das will auch der Sultan von Sokoto, Alhaji Muhammed Saad Abubaker, nicht tun. Der geistliche und weltliche Herrscher des Sultanats im Norden Nigerias hatte Österreichs Außenminister Michael Spindelegger am späten Freitag in seinem Palast empfangen – die letzte Station in der viertägigen Nigeria-Reise des Außenministers. Der Sultan ließ zu Ehren des österreichischen Gastes Trommler und Trompeter aufmarschieren und diskutierte ausführlich über das Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen. „Es gibt keinen Krieg zwischen Muslimen und Christen in Nigeria“, beteuerte Abubaker, der die Attentate von Boko Haram verurteilt. „Gemeinsam können wir die teuflischen Kräfte bekämpfen.“ Nigeria sei „stark und vereint“, sagte der Sultan, der über eine Welt herrscht, die völlig anders ist als die in Lagos – ganz im Süden, am anderen Ende des riesigen afrikanischen Landes.

Dort, im Viertel Ajegunle, kämpft der 31-jährige Vincent so wie zigtausende andere weiter ums Überleben. Er hofft, noch einmal die Chance zu bekommen, Nigeria zu verlassen. Er träumt davon, nach Österreich zurückzukehren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.06.2012)

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