Aicha el-Wafi: "Mein Schmerz wird täglich schlimmer"

Aicha elWafi Mein Schmerz
Aicha elWafi Mein Schmerz(c) EPA (Peer Grimm)
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Ihr Sohn, Zacarias Moussaoui, war vermutlich als 20. Attentäter der Anschläge vom 11. September vorgesehen, wurde aber rechtzeitig verhaftet. Seine Mutter erzählt, wie 9/11 auch ihr Leben für immer veränderte.

Wegen seiner Verwicklung in das Terrorkomplott verurteilte ihn ein US-Gericht zu lebenslanger Haft.

Es war der erste Richterspruch gegen einen Beteiligten der Anschläge vom 11. September 2001. Anfang Mai 2006 verurteilte eine zwölfköpfige Jury in Alexandria bei Washington den marokkanisch-stämmigen Franzosen Zacarias Moussaoui zu lebenslanger Haft. Einer Todesstrafe war Moussaoui nur deshalb entgangen, weil die Geschworenen nicht einstimmig entschieden hatten – obwohl Moussaoui sich schuldig bekannt hatte, am 9/11-Komplott beteiligt gewesen zu sein.
Er hätte womöglich als 20. Attentäter ein Flugzeug ins Weiße Haus lenken sollen, wäre er nicht schon Wochen zuvor an einer US-Pilotenschule festgenommen worden, weil er als verdächtig aufgefallen war. Wenige Tage nach dem Urteil zog Moussaoui das Geständnis überraschend zurück und legte Berufung ein, scheiterte aber damit. Die Mutter des mutmaßlichen Terroristen, Aicha el-Wafi, wirft den USA vor, mit ihrem Sohn einen „Märtyrer“ geschaffen zu haben. Nach den Anschlägen vom 11. September suchte sie den Kontakt zu den Angehörigen der Opfer.


Sie wollten Ihren Sohn Zacarias Moussaoui  wie einen perfekten französischen Staatsbürger erziehen. Warum ist er dennoch auf die falsche Bahn geraten, was ist schief gelaufen?

Aicha el-Wafi: Ich habe versucht, meinen Sohn korrekt zu erziehen und wollte ihm den Weg von Respekt und Toleranz zeigen.  Zuerst lebte er ja auch wie ein französischer Staatsbürger, ging mit seinen Freunden aus, trank Alkohol und rauchte.


Wo hatte Zacarias erstmals Kontakt mit Extremisten?

Nicht in Frankreich, sondern in einer Moschee in Großbritannien, während seiner Studienzeit. Er war dort, um sein Englisch zu verbessern.


Haben Sie denn keine Warnsignale gesehen? Ab welchem Zeitpunkt kam Ihnen sein Verhalten verdächtig vor?

Warnsignale habe ich nie gesehen. Nachdem er nach Großbritannien gegangen war, kam er mich immer wieder besuchen. Da merkte ich, dass er sehr viel betete. Doch das ist ja nichts Ungewöhnliches für einen Muslim. Ich dachte auch, er betet für mich. Niemals hätte ich geglaubt, dass er sich mit Extremisten umgibt.


Sie sind als junge Frau – im Alter von 17 Jahren – nach Frankreich gekommen. Sie waren sehr fleißig, haben viel gelernt, um die beste Erziehung für Ihre Kinder sicherzustellen. Akzeptierte Zacarias das Frauenbild, das Sie repräsentierten – fest verankert in der französischen Kultur und dem täglichen Leben?

Ich bin im Jahr 1965 nach Frankreich gekommen, da war ich 17 Jahre alt und hatte schon zwei Kinder: meine beiden Töchter Nadia und Jamila. Meine Söhne kamen in Frankreich zur Welt. Es war eine sehr schwierige Zeit: Wir hatten keine Arbeit, nichts zu essen, und der Vater meiner Kinder schlug mich regelmäßig. Es ging mir sehr schlecht. Deswegen habe ich mein Leben selbst in die Hand genommen und den Mann verlassen, mit dem ich einfach nicht mehr leben konnte.


Und Ihre Kinder?

Als meine Kinder in die Schule gingen und ich sie dort abholte, wurden sie von ihren Klassenkollegen immer wieder gefragt, ob ich ihre Schwester sei. Sie waren stolz auf mich und respektierten mich; taten, was ich ihnen sagte. Das hat sich erst geändert, als sie das Haus verließen und an die Universität gingen: Insbesondere der Charakter meiner Söhne veränderte sich zusehends. Plötzlich wollten sie, dass ich mich verschleiere. Sie gingen auch nicht mehr aus, tranken keinen Alkohol und rauchten nicht. Ich wollte diese Veränderungen nicht akzeptieren. Meine Söhne wuchsen heran und veränderten sich, ich aber war schon erwachsen, veränderte mich nicht mehr.

Haben Sie Ihre Söhne denn niemals nach ihren Freunden gefragt?

In Frankreich hatten meine Kinder sogar israelische Freunde. Ich habe sie aber nie so genau danach gefragt, mit wem sie ihre Zeit verbringen. Als Zacarias an die Universität  nach Großbritannien ging, wollte ich ihn besuchen. Er sagte mir, dass er dann ein Hotelzimmer buchen würde. Ich fragte ihn, warum – er hatte ja sein eigenes Appartement. In seiner Wohnung würden jetzt auch andere Leute leben, gab er mir zur Antwort, seine „Brüder”. Er sagte nicht „Freunde”, sondern „Brüder”. Das fand ich schon komisch, dachte aber, das wäre in Großbritannien eben so üblich. Ich besuchte meinen Sohn dann nicht, weil ich nicht in einem Hotelzimmer übernachten wollte. Richtig misstrauisch war ich aber auch nicht. Erst später wurde mir klar: Er bezeichnete die Islamisten als seine Brüder.


Und dann – haben Sie den Kontakt zu Ihrem Sohn gehalten?

Wir hatten jahrelang keinen Kontakt, doch als ich nach einem längeren Aufenthalt in Marokko nach Hause zurückkehrte, hatte ich plötzlich mehrere Nachrichten von Zacarias auf dem Anrufbeantworter. Er sagte immerzu „Mama, ich liebe dich” oder „Ich umarme dich.“
Am 13. September, zwei Tage nach den Anschlägen, reiste ich nach Großbritannien. Da gab es große Proteste vor den Moscheen. Ich war vollkommen schockiert, war das doch mein erster Kontakt mit Islamisten. Jeder kannte mich, wusste, dass ich die Mutter von Zacarias bin. Nur ich kannte niemanden.


Die Anschläge vom 11. September haben Ihr Leben für immer verändert. Doch auch die Sichtweise vieler Menschen aus der westlichen Welt gegenüber Muslimen hat sich verändert, weil Sie auf die Angehörigen der Opfer zugegangen sind. Was haben Sie bei diesen Treffen gelernt?

Ich habe die Familien in einer unglaublich schweren Zeit getroffen, als sie gerade einen geliebten Menschen verloren hatten. Ich habe diese schweren Zeiten mit ihnen geteilt und konnte vieles von ihnen lernen – ich hoffe, das gilt auch umgekehrt. Unser Schicksal ist ähnlich, eines aber unterscheidet uns: Mein Schmerz wird jeden Tag größer, denn ich weiß nicht, wie es meinem Sohn ergeht. Die Opferfamilien wissen wenigstens, wo ihre Angehörigen sind: Sie sind tot. Das Leid dieser Familien wird wohl mit der Zeit geringer. Doch Zacarias ist lebendig begraben, hat keinen Kontakt mit der Außenwelt. Ich habe jeden Tag Magenschmerzen, weil ich nicht weiß, wie es meinem Sohn ergeht. Es gibt so viele Fragen, die unbeantwortet bleiben. Das kann und will ich nicht akzeptieren.


Hat Ihr Sohn die Verurteilung Ihrer Meinung nach nicht verdient?

Ich will von der US-Regierung wissen, weshalb genau sie ihn anklagt. Ich denke natürlich an die Angehörigen und teile ihr Leid. Doch Zacarias ist nicht verdammt zum Tod, er ist verdammt zum Leben. Es ist furchtbar, dass er mit Islamisten verkehrte, aber er verkehrte nicht mit den Menschen, die diese schreckliche Tat begangen haben. Er wurde am 16. August 2001 wegen Visaproblemen verhaftet.


Zacarias wird sein Leben im Gefängnis fristen.  Würde er akzeptieren, dass Sie ihn besuchen, was würden Sie sagen?

Ich kommuniziere seit fünf Jahren mit ihm, doch FBI-Agenten waren die ganze Zeit in seiner Nähe und lauschten dem Gespräch. Er konnte mir nicht sagen, wie er da hin kam, wo er jetzt ist. Ich bin mir sicher, er hätte es mir gesagt, wären wir allein gewesen. Doch vor den FBI-Leuten kann er nicht reden. So aber gibt es immer eine Barriere zwischen uns. Er sagt aber, er wird seine Briefe lesen.


Sie fordern Mütter in der ganzen Welt dazu auf, Gatekeeper (Personen, die aufgrund von Fähigkeiten oder Positionen die Möglichkeit haben, andere zu beeinflussen) zu sein. Kommunizieren Sie in Ihrer täglichen Arbeit mit Müttern, deren Söhne empfänglich für Extremismus sein könnten?

Meine Nachricht an alle Mütter und alle Eltern lautet, wachsam zu sein und Respekt und Toleranz zu zeigen. Es ist nicht leicht, Kinder zu haben. Wenn sie jung sind, sind sie mit uns, aber wenn sie älter werden, gehen sie und du weißt nicht, was sie tun. Es geht nicht um Schwarz oder Weiß, Juden, Araber oder Christen – respektieren müssen wir alle. Ich denke an alle Familien, die jemanden verloren haben. Doch mein Schmerz wird täglich schlimmer. Mein Sohn ist lebendig begraben.

Die Interviewerin, Edit Schlaffer, ist Gründerin von „Frauen ohne Grenzen“  und SAVE (Sisters Against Violent Extremism) Übersetzung: Elaine Hargrove, Anna Gabriel

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.09.2011)

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