Wie das damals beim Heer so war

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Die Erlebnisse bei Bundesheer und Zivildienst haben einen großen Platz in unserer Erzählkultur eingenommen. Zehn "Presse"-Redakteure ziehen eine persönliche Bilanz.

Es gibt kaum Dinge, über die in Männerrunden mehr geredet wird, wenn es irgendwann darum geht, Erinnerungen hervorzukramen: Der Präsenzdienst war über Jahrzehnte hinweg ein Fixpunkt im Leben junger Männer. Und all die Kameraden, der Spaß, den man gehabt hat, die Kränkungen, die man erleiden musste und die kleinen Tricks, mit denen man sich das Leben in der Kaserne etwas leichter machen konnte, sind fixer Bestandteil der Erzählkultur geworden. Kein Wunder – denn mehrere Monate in einer Organisation, in der alles so ganz anders abläuft als draußen, im „richtigen Leben“, die lassen Geschichten heranreifen. Die schaffen den Stoff, mit dem man all denen, die es nicht miterlebt haben, alle Gefühle zwischen Erstaunen, Bewunderung und Mitleid abringen kann.

Dabei geht es gar nicht nur um die großteils skurrilen Erlebnisse, die es bis in die Welt von Dichtung, Pop und Film gebracht haben. Es geht auch um die positiven Dinge, die sich in der Zeit beim Heer abgespielt haben. Um Freundschaften, um spannende Erfahrungen, um Stolz und Anerkennung. Und am Ende vor allem um das Gefühl, das die Monate im Dienst hinterlassen haben. Was hat es mir gebracht? Was habe ich gelernt? Und: Würde ich es wieder machen? Am Ende des Zivildienstes sieht es oft nicht anders aus. Natürlich, es fallen viele Dinge weg, die „in der richtigen Welt“ für Erstaunen sorgen. Doch zu erzählen gibt es auch hier einiges. Vieles war nicht gut, aber nicht alles war schlecht.

Ende der Erzählung? Zehn „Presse“-Redakteure haben sich erinnert, welche Begegnung mit dem Präsenzdienst bei ihnen am stärksten hängengeblieben ist. Von den Tücken bei der Musterung bis zu den Tränen beim ersten Schuss auf einen Kameraden, vom sportlichen Ehrgeiz bis zur ersten Begegnung mit einem Toten – letzteres übrigens als Zivildiener beim Rettungsdienst. Zehn Versuche, aus den Erfahrungen mit Militär- und Zivildienst so etwas wie eine persönliche Bilanz zu ziehen. Wie auch immer die heutige Volksbefragung zum Bundesheer auch ausgehen wird.

Wolfgang Greber: Im Zivilleben gibt's noch mehr Ungustln


Lkw-Fahrer. Ich habe mich immer für Militärgeschichte und -technik interessiert. War Sportschütze. Mochte blauäugige Friedensbewegte und Leute nicht, die übers Heer lachten, aber nicht bereit waren, es anständig auszurüsten. Ich musste also zum Heer. Es war meine Frage des Gewissens. Nach dem Jusstudium, mit 27, kam 1997 das Einrücken in Landeck. Harte Gebirgsausbildung, Kreuz und Knie beschädigt, ich hasste viele Ausbildner: Jung-Prolos, die Herrn Magister hetzen durften, sich aber nicht so viel trauten wie bei „Jungschwänzen“. Einer der Bösen musste mich aber loben, da ich gut schoss: „Greeba, Sie solltn Schoafschütz wern, net Richter!“
Im MilKommando Innsbruck wollten sie mich ins Büro setzen. Ich wollte Auto fahren, den Lkw-Schein. Ich setzte mich durch. Im Steyr 680 fuhren wir in Gelände, wo Mountainbiker vor Angst zittern würden. Meist chauffierte ich aber im Pkw Offiziere, die waren okay.
Ich lernte von Technik, Kameraderie, Verschwendung, Land und Lebenswelten, dass man öfters Nein sagen soll und wie hassenswert (oder bedauernswert) Menschen oft sind, gerade vom Vizeleutnant abwärts. Aber Ungustln gibt es auch im Zivilleben und bei Akademikern, vielleicht sogar häufiger – und Hinterhältigere.

Oliver Grimm: Lienz, Wien, Jazz und Nazisprüche


Jurist. Als ich zum ersten Mal auf einen Menschen schoss, musste ich weinen. Natürlich waren es nur Platzpatronen, die ich da im Frühling 2004 im Wald bei Lienz aus meinem Sturmgewehr abfeuerte. Doch die Vorstellung, dass ich hier das Töten anderer junger Männer übte, war mir unerträglich. Zumal ich diese jungen Männer im Visier meiner Waffe gut kannte: Ein verregnetes Wochenende lang hatten wir im Soldatenheim über dem Kreuzworträtsel der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ gebrütet. Die Grundausbildung in Osttirol schenkte mir damit eine Handvoll sehr lieber Freunde, die so wie ich als Spätberufene nach dem Studium eingerückt waren.
Über meinen Dienst als Jurist im mittlerweile aufgelösten Militärkommando Wien hingegen kann ich nichts Gutes sagen. Immerhin konnte ich mangels Arbeit Jonathan Franzens „Corrections“ und Jeffrey Eugenides' „Middlesex“ zur Gänze lesen. Die sinnlos durchwachten Nächte von Samstag auf Sonntag als „Bereitschaftsdienst“ habe ich nur dank der Ö1-Jazznacht ohne seelischen Schaden überstanden.

Den einzigen Akt zumindest geistiger Landesverteidigung setzte ich erst vier Jahre nach dem Abrüsten. In einer Kolumne hatte ich anonymerweise jenen Vizeleutnant erwähnt, der die nach den drei von den Nazis ermordeten Widerständlern Biedermann, Huth und Raschke benannte Kaserne in Penzing höhnisch als „Drei-Verräter-Kaserne“ verunglimpft hatte. Am nächsten Tag rief ein ernstlich betroffener Offizier aus dem Verteidigungsministerium an, um sich nach den Details zu erkundigen. Dem nazoiden Vizeleutnant wurde daraufhin der Kopf gewaschen. Wenigstens das hat mein Wehrdienst gebracht.

Franz Schellhorn: Wehrmann Franz und sein Chauffeur


Fernmelder. Das Unterrichtsfach Maschinschreiben brachte mich in meiner Schulzeit an den Rand des Wahnsinns – und an den besten Job, der in der Kaserne zu haben war: Schreiber und Fahrer des stellvertretenden Kommandanten. Sollte heißen: Jede Woche mit dem Chef im Hubschrauber durch das Land zu fliegen, um auf Berggipfeln neue Richtfunkpositionen zu erkunden. Das hatte was. Beeindruckend professionell, eine überaus willkommene Alternative zum tristen Kasernenalltag. Hin und wieder musste getippt und gefahren werden, aber das war die Ausnahme.
In den Sommermonaten war es mit dem Traumjob aber so gut wie vorbei. Ein Fahrer mit Gipsbein machte sich schließlich nicht so gut. Statt mich vor die Tür zu setzen, steuerte Herr Oberstleutnant den Wagen – und chauffierte für vier Wochen seinen Sekretär. Der launische Herr hatte überraschend viele guten Seiten. Nach den Einsätzen musste nicht die Inzersdorfer Jagdwurst ausgepackt werden, gespeist wurde mit den Offizieren, à la carte versteht sich, meist in einem passablen Gasthaus.

Die mit Abstand bestgehende Gastwirtschaft des Landes versteckte sich allerdings nicht irgendwo zwischen dem Bregenzer Wald und dem Mariazeller Land, sondern in der eigenen Kaserne. Wäre der Staat ein guter Geschäftsmann, er könnte in den Unteroffiziersmessen dieses Landes schon vor der Mittagsstunde die Kosten für das halbe Berufsheer eingespielt haben. Aber er ist eben kein guter Geschäftsmann. Deshalb führt er angehenden Steuerzahlern und freiwilligen Grundwehrdienern auch so ausgiebig vor, wie eine öffentliche Einrichtung unnachgiebig heruntergewirtschaftet wird. Dazu bräuchte es freilich keine sechs Monate.

Andreas Wetz: Wie man selbst Freiwilligen das Heer austreibt


Einjährig-Freiwilliger. Vom Kind bis zum jungen Erwachsenen trieb ich mich als Pfadfinder mit Begeisterung in den Wäldern und Bergen Oberkärntens herum. Und mit der Matura sollte plötzlich Schluss sein? Niemals! Die Entscheidung war einfach: Bundesheer, einjährig freiwillig. Die Aussicht auf einen vom Steuerzahler finanzierten Abenteuerurlaub war im Oktober 1996 verlockend. Von nun an vielleicht nicht mehr ganz so elegant und ohne weltverbesserischen Anspruch. Dafür aber mit schwerem Gerät und der Macht der Maschinerie. Für den ersten Teil der Ausbildung in der Villacher Henselkaserne traf das sogar zu. Zelten, Abseilen, Marschieren und Biwakieren in Schneehölen: Wo sonst kann man das – wenn's einem gefällt – gegen Bezahlung tun? In Survival-Camps zahlen Städter gutes Geld dafür. Dafür ist dort die Stimmung schlechter. Villach und seine Ausbildner waren herrlich. Landesverteidigung? Ganz ehrlich: Das war mir völlig egal.

Im zweiten Teil der Ausbildung, auf der Jägerschule in Saalfelden, schlug das System zurück. Körperlich weniger fordernd, setzte das Kommando auf alte, militärische Schule: Anzipf. Warum künftige Offiziere regelmäßig aus dem Bett geläutet werden müssen, um nach folgender Volladjustierung wieder ins Bett geschickt zu werden, erschloss sich mir nicht. Wenn schon aufstehen, dann wollte ich anschließend wenigstens einen ordentlichen Nachtmarsch geboten bekommen. Doch dazu war wohl der Kommandant wieder zu faul. Als ich schließlich nach dem Warum fragte, bekam ich keine Antwort. Das war es dann für mich. Ich schied – in Topform – aus „gesundheitlichen Gründen“ aus. Wie ich das geschafft habe, bleibt mein kleines Geheimnis.

Oliver Pink: Vom Wald in die rettende Schreibstube


Systemerhalter. Anfangs war ich Jäger. Zwei Monate lang. Es war furchtbar. 18 Jahre glaubt man, man lebe in einer Demokratie, doch dann, beim Bundesheer, glaubt man, man lebe in einer Diktatur. Man muss sich von – im besten Fall einfältigen, im schlimmsten Fall sadistischen – Vorgesetzten, die einen Stern mehr haben, anbrüllen lassen. Und fürchten, abends nicht raus oder am Wochenende nicht heim zu dürfen, weil einer der Kameraden einen Blödsinn gemacht hat. Denn beim Heer gibt es noch die Kollektivstrafe – zumindest war es zu meiner Zeit, im Jahr 1992, so.

Durch einen glücklichen Zufall landete ich dann doch dort, wo ich eigentlich immer hinwollte: in der Schreibstube. Bei einem dieser viel kritisierten Systemerhalterjobs. Und das ist, finde jedenfalls ich, das Beste, was einem beim Bundesheer passieren kann. Ein Systemerhalterjob. Leerlauf im Büro kann großartig sein – vor allem, wenn man vor Augen hat, dass man sonst durch den Wald hirschen, über die Wiese robben oder an der burgenländisch-ungarischen Grenze Wache schieben müsste.
Was ich beim Bundesheer gelernt habe? Nichts. Nicht einmal rauchen und saufen, wie so viele andere Kameraden.

Antonia Barboric: Rekrutin meldet sich doch nicht zum Dienst


Frau fast beim Heer. Im Jahr 2000, mit achtzehn, wollte mich das Bundesheer rekrutieren. Ich hatte mein Interesse am Heer bekundet – der Sport, eingebunden in das Arbeitsumfeld, sagte mir zu. Vor allem, weil ich begeistert Fußball spielte. Die Eignungsprüfung sollte das Problem nicht sein. In der Erzherzog-Johann-Kaserne in Strass absolvierte ich daher einen Schnuppertag – um kurz darauf nach Graz zu fahren, wo ich in der Gablenz-Kaserne einen Probelauf machte.

Locker absolvierte ich unter 13 Minuten die für die Aufnahmsprüfung erforderlichen 2400 Meter auf der Laufbahn und die zwölf Liegestütze. Der Soldat, der mich begleitete, war so begeistert, dass er mich sofort in der Kaserne behalten wollte. Da mir aber noch eineinhalb Jahre bis zur Matura blieben, musste ich ihm vorerst einen Korb geben. Allerdings wurde mir dann doch etwas mulmig. In einer Kriegsmaschinerie zu arbeiten und mit Waffen zu hantieren – ich war und bin dafür wohl doch um einiges zu pazifistisch veranlagt. Und so verneinte ich nach einiger Zeit mein weiteres Interesse an diesem Unternehmen. Rückblickend würde ich es heute genauso machen: Sport – ja, gern, aber keine Waffen für mich.

Wolfgang Wiederstein: Wildschweine und ein harter Hund


Offizier. Wie habe ich mich selbst verflucht! Ich habe diesen Tag im Jahr 1985, an dem ich mit meiner Unterschrift mein Schicksal für zwölf Monate in die Hand von menschenverachtenden Ausbildnern gelegt habe, verwünscht. Einer der Brüder hatte es vorgemacht, er war schon Leutnant der Reserve. Der goldene Stern leuchtete, nur habe ich ihn damals eigentlich nie gesehen. Er war in der Kaserne von Melk und Wels, ich wusste gar nicht, worauf ich mich da überhaupt eingelassen habe. Dabei hätte ich es so einfach haben können, einen Einberufungsbefehl in irgendeine Versorgungseinheit hatte ich schon. Aber was mein Bruder kann, das kann ich auch.
Landwehrstammregiment 21, das sollte also meine neue Heimat werden. Besser gesagt die „Hoch- und Deutschmeister“, wie die Einheit stolz genannt wurde. Vier Züge zu je 30 Mann, eine ganze Kompanie Einjährig-Freiwilliger. Maturanten, die sich einbildeten, für Höheres berufen zu sein. Hauptsache ich war in Wien, so meine leise Hoffnung in einem Haufen von Ehrgeizlingen. Nur die Maria-Theresien-Kaserne habe ich nicht oft gesehen, insgesamt habe ich über sechs Monate in Allentsteig verbracht.

Ein Panzer ist über mich hinweggerollt, ich habe mit allen Waffen, die dieses Heer hat(te), scharf geschossen. Ich habe mein Sturmgewehr geölt, habe Schuhe ohne Ende geputzt, ein Maschinengewehr und auch Kameraden geschultert, unter der ABC-Schutzmaske geflucht, einen Häuserkampf simuliert, mir Zehen und Finger abgefroren, in einem Iglu geschlafen, Zeltwache gehalten, Wildschweine verjagt, einen Scharfschützenbewerb gewonnen, viel über ausländische Armeen gelernt. Ich habe mir mein Gesicht schwarz angemalt, einen Spähtrupp geführt, bin mit meinen Kameraden durch dick und dünn gegangen.

Ein normales Fortbewegen hat es für uns nicht gegeben, ich habe so viele Fleischwurstdosen geöffnet, dass ich sie bis heute nicht mehr sehen kann. Ich hatte ein Kampfgewicht von 64 Kilogramm und echte Muskeln, mit denen man die Hindernisbahn locker absolvieren konnte.
Mein Ausbildner am Allgemeinen Offiziersanwärterkurs war kein Milak-Fähnrich, es war noch viel schlimmer – er war bereits Leutnant und träumte von einer echten militärischen Laufbahn. Die er später auch eingeschlagen und geschafft hat. Ein Kollege von der Außenpolitik hat ihn irgendwo in Afrika kennengelernt, ein harter Hund, der keinen Widerspruch kennt. Ich stand auf seiner Abschussliste, er hat mich gequält, mir jeden Tag einen Zettel unter die Nase gehalten und geschrien: „Geben Sie auf – erst wenn Sie sich abmelden, sind Sie mein Held.“
Aber ich habe es ihm gezeigt. Ich habe es ihnen allen gezeigt. Den letzten Orden haben sie mir vor einigen Jahren grußlos mit der Post geschickt. Er hängt jetzt bei den anderen, am stillen Örtchen.

Klemens Patek: Zeitgeschichte für den Bundestag


Gedenkdiener. Nicht zum Bundesheer, das war fix. Was sonst? Da war ich offen. Ein kleines Zeitungsinserat hat mich für ein Jahr nach München gebracht. Der Verein „Niemals Vergessen“ suchte Gedenkdiener für das ehemalige KZ Dachau. Der Gedenkdienst ist als Alternative zum Zivildienst seit 1991 zugelassen. Nicht, dass ich bis dahin ein besonders ausgeprägtes Interesse an Zeitgeschichte hatte. Aber ein Jahr weg von Zuhause kann ja nicht schaden.

Das Nest zu verlassen, war Chaos und Spaß genug. Aber die Arbeit in der  Verwaltung der Gedenkstätte, die Führungen für jugendliche Besuchergruppen, die Gespräche mit Zeitzeugen, Exkursionen (im Bild vor dem Schloss Hartheim in Oberösterreich, wo die Nazis behinderte Menschen umgebracht haben) – das alles war herausfordernd und beeindruckend. Ein Höhepunkt dabei war der Holocaust-Gedenktag im Deutschen Bundestag. Mit zittriger Stimme präsentierte ich, der „Ösi-Zivi“, Parlamentspräsident Norbert Lammert Ideen von jugendlichen Arbeitsgruppen zur Gedenkkultur. Es war eine gute Zeit, es war ein unbeschwertes Leben in einer für mich neuen Stadt.

Gerhard Bitzan: Nur Taugliche feiern mit dem Bürgermeister


Zivildiener. Wer 1972 in Oberösterreich seine Stellungsaufforderung bekam, hatte zum Heer wenig Alternativen: Einerseits war Zivildienst erst ab 1975 möglich, andererseits war das Bundesheer besonders in der ländlichen Gesellschaft sakrosankt; Untaugliche wurden als Weicheier betrachtet und zur Stellung in die Stadt fuhr der Bürgermeister mit (vielleicht auch noch heute?) und feierte mit den Tauglichen. Mir, dem Gymnasiasten, der die weltweite Friedensbewegung, Hippies und Flower Power sehr sympathisch fand, war der Dienst mit der Waffe daher ein Gräuel. Gemeinsam mit wenigen Gleichgesinnten erschien ich unter den verächtlichen Blicken des Bürgermeisters zur Stellung. Der Offizier lächelte nur bei meinen Krankheitsbeschreibungen – und stempelte „tauglich“. Zum lustigen Bürgermeister-Umtrunk wurden wir dennoch nicht eingeladen.

Dann geschah das kleine Wunder: Mein Schreiben, dass ich den Dienst mit der Waffe ablehne, wurde von den Behörden mit dem Argument akzeptiert, dass ein Zivildienstgesetz in Ausarbeitung sei. Auch die Gewissensprüfung blieb mir erspart: 1977 folgten acht Monate als – sehr zufriedener – Vollzeitsanitäter beim Arbeiter-Samariter-Bund in Wien.

Martin Kugler: Die Fahrt zur Dialyse und der dicke Strick


Rettungsfahrer. Das Aufstehen um halb fünf in der Früh, zehn Monate lang, war für einen Nachtmenschen wie mich wirklich hart. Aber es half alles nichts: Beim Roten Kreuz in Heiligeneich, einem netten Dorf mitten im Tullnerfeld, war um sechs Uhr Dienstbeginn. Und von Wien weg ist es doch ein ganzes Stück dorthin.
Aber es war schon gut, dass ich mich 1993/94 – zwangsweise – dieser täglichen Tortur unterzog: Der Zivildienst, also ein Dienst an der Gemeinschaft, bei dem man sich nicht stündlich anschreien und täglich erniedrigen lassen muss, ist eine sinnvolle Sache. Man profitiert für sein Leben davon. Zum Faszinierendsten am Rettungswesen gehört, dass man mit Menschen zusammentrifft, die man im „normalen“ Leben wohl niemals kennenlernen würde. Mit den „Stammgästen“, etwa mit älteren Damen, die man dreimal in der Woche nach St. Pölten zur Dialyse brachte, bauten sich interessante Beziehungen mit tiefen Gesprächen auf.

Der Rettungsdienst hat natürlich auch unschöne Seiten: etwa, wenn man Unfallopfer aus einem Auto, das sich um einen Baum gewickelt hat, herauszerren muss; wenn man einen Menschen, der sich erhängt hatte, auf Geheiß des anwesenden Arztes vom Strick herunterschneidet – mit dem hysterischen Schreien der Ehefrau direkt im Ohr; oder wenn man in einem Haufen Sägespäne einen abgetrennten Finger sucht und mit Blaulicht ins Spital nachbringt. Das alles passiert wirklich! Es ist lehrreich, dass man das erlebt. Und es ist gut, dass man seinen Teil dazu beitragen kann, um das Leid in der Welt erträglicher zu machen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.01.2013)

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