Großbritannien driftet in den EU-Austritt

David Cameron
David CameronAP Photo/Remy de la Mauviniere
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Premierminister Cameron attackiert und blockiert derzeit die EU nach Lust und Laune. Daheim steht er aber mit dem Rücken zur Wand. Denn er hat eine innenpolitische Lawine losgetreten, die kaum noch zu bremsen ist.

Wien/London. Wenn die europäischen Staats- und Regierungschefs am 10. Dezember nach Oslo reisen, um den Friedensnobelpreis für die EU zu feiern, wird einer fehlen: David Cameron. Der britische Premierminister versucht alles zu vermeiden, was die angespannte Stimmung in seinem Land anheizen könnte. Mit seinem Versprechen, ein Referendum über das künftige Verhältnis zur Europäischen Union abzuhalten, hat er tief in den Ameisenhaufen der Euroskeptiker gebohrt, die nun den gesamten Boden der britischen Innenpolitik einzunehmen drohen. So wie der Tory-Abgeordnete Douglas Carswell (siehe Interview) hoffen sie auf eine Dynamik, die den EU-Austritt unumgänglich macht.

Mit Häme kommentieren europäische Politiker, wie sich Cameron in dieses gefährliche Eck manövriert hat. „Großbritannien wird in Europa bald eine Rolle wie Norwegen oder die Türkei spielen“, sagt Guy Verhofstadt, der ehemalige belgische Premier und Vorsitzende der Liberalen im Europaparlament. „Dann kann Großbritannien nach Puerto Rico gleich den Antrag als 52. Bundesstaat der USA stellen“, ätzt der proeuropäische Grüne Daniel Cohn-Bendit.

Cameron selbst gleitet das Steuer in der Europapolitik zunehmend aus der Hand. Daheim hat das Unterhaus per Beschluss seinen Verhandlungsspielraum beim künftigen EU-Budget völlig eingeschränkt. Extern zeigen ihm EU-Partner mittlerweile die kalte Schulter. In den EU-Institutionen wird registriert, dass selbst einst enge Verbündete wie Polen Abstand nehmen.

Vor einem Jahr hat Cameron mit seiner Ablehnung des Fiskalpakts die EU mitten in der Krise in eine prekäre Lage gebracht. Dann verhinderte er die europaweite Einführung einer Finanztransaktionssteuer. „Früher haben die Briten auch ihre Interessen verteidigt, sie haben letztlich aber einen gangbaren Kompromiss zugelassen. Heute ist das anders“, so ein Diplomat. Wenn kommende Woche der EU-Gipfel über den Haushaltsrahmen für die Jahre 2014 bis 2020 stattfindet, wird deshalb mit einer weiteren Eskalation gerechnet.

Der Regierungschef, der seinen Wahlsieg einer europakritischen Linie zu verdanken hat, weiß, dass es zur EU-Mitgliedschaft keine Alternative gibt. „Sie bringt Vorteile für unser Land“, gesteht Cameron offen ein. Sogar der euroskeptische Thinktank „Open Europe“ kam kürzlich in einer Studie zum Schluss, dass Großbritannien aus wirtschaftlichen Gründen in der EU bleiben muss. „Alle Alternativen würden große Nachteile bedeuten und unabsehbare politische und ökonomische Risken bergen“, so der Bericht.

Als Ausweg will Cameron nach den nächsten Wahlen 2015 über ein neues Verhältnis zur EU abstimmen lassen. Die Ministerien kämmen derzeit alle Politikfelder durch, die von der EU zurück ins Land geholt werden könnten. Doch mit der Aussicht auf das Referendum haben die Boulevardmedien und die euroskeptischen Tory-Abgeordneten Blut geleckt. Sie wollen aufs Ganze gehen, der EU-Mitgliedschaft, für die es in der Bevölkerung keine Mehrheit mehr gibt, ein Ende setzen.

Warnungen aus der City

In der Londoner City laufen längst die Planspiele für den „Brexit“, den britischen EU-Exit. Der Finanzdienstleistungssektor ist trotz aller Krisen die wichtigste Wirtschaftsbranche des Landes, produziert knapp neun Prozent des Bruttosozialprodukts und über zehn Prozent der Steuereinnahmen. Sämtliche internationalen Banken haben eine Dependance in der Stadt. „Diese Unternehmen sehen London als Tor zu Europa – und die Gefahr besteht natürlich, dass wir diese Position verlieren würden, wenn Großbritannien austreten sollte“, so Sanjay Odedra, Sprecher der „City of London“-Corporation. „Für den Finanzsektor ist der Zugang zum europäischen Binnenmarkt ganz entscheidend.“ Ohne diesen Standortvorteil, so die Sorge, könnten sich ausländische Finanzinstitute genauso gut in Luxemburg, der Schweiz oder gleich in Frankfurt niederlassen. Sogar euroskeptische Experten fürchten: Durch den Austritt droht London die weltweite Führungsrolle im Währungshandel zu verlieren, weil die Europäische Zentralbank dann noch intensiver darauf drängen könnte, Eurogeschäfte auch nur in der Eurozone durchzuführen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2012)

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