Türkei nennt EU-Tadel "parteiisch"

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Ankara bezeichnet sich als "reformfreudigste" Regierung Europas. Doch in Brüssel ist der Enthusiasmus für einen baldigen Beitritt weiter verhalten. Die Türkei drängt auf eine Vollmitgliedschaft noch vor 2023.

Wien/Ankara/Brüssel. Europaminister Egemen Bağiş lächelt. Rechtzeitig zum Auslaufen der zypriotischen Ratspräsidentschaft hat die Türkei erstmals seit Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der EU im Jahr 2005 eine eigene Zwischenbilanz ihrer Reformen vorgelegt – und diese fällt erwartungsgemäß positiv aus. Bis auf den ungelösten Zypern-Konflikt gebe es, so der Tenor des 270 Seiten langen Berichts, kaum noch Stolpersteine auf dem Weg in die Vollmitgliedschaft. „Keine Regierung in Europa ist reformfreudiger als wir“, ließ Bağiş voller Stolz wissen.

Tatsächlich könnte im neuen Jahr wieder Schwung in die seit Langem stockenden Beitrittsgespräche kommen. Zumindest plädierte Deutschlands Außenminister Guido Westerwelle jüngst dafür, schon im ersten Halbjahr 2013 weitere Verhandlungskapitel zu eröffnen. „Sonst kann es uns leicht passieren, dass wir bald mehr Interesse an der Türkei haben als die Türkei an uns“, mahnte er. Zu Recht verlange Ankara Fairness, Zuverlässigkeit und Respekt bei den Gesprächen.

Nur ein Kapitel abgeschlossen

Noch aber ist das gegenseitige Vertrauen, gelinde gesagt, verbesserungswürdig. Nicht nur, dass sich die Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel in den vergangenen sechs Monaten wegen der türkischen Blockade der Ratspräsidentschaft Zyperns nicht gerade gebessert haben. Die Zypern-Frage gilt als größte Hürde für die Annäherung der Türkei an die EU: Völkerrechtlich ist die ganze Insel seit 2004 EU-Mitglied, doch findet das Regelwerk der Union im türkisch besetzten Norden keine Anwendung. Knapp acht Jahre nach dem offiziellen Start der Beitrittsgespräche konnte daher lediglich eines von insgesamt 35 Kapiteln abgeschlossen werden. Wegen der Weigerung der Türkei, ein Zollprotokoll für Zypern umzusetzen, hat die EU schon im Jahr 2006 acht Verhandlungskapitel völlig auf Eis gelegt.

Zudem divergiert die Einschätzung der Türkei den eigenen Reformeifer betreffend massiv von jener der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton und Erweiterungskommissar Štefan Füle. In ihrem Fortschrittsbericht warf die Kommission Ankara schon im Oktober Mängel bei der Lage der Menschenrechte und der Unabhängigkeit der Justiz vor. Bağiş will davon nichts wissen: Solche Vorwürfe seien „subjektiv“, „parteiisch“ und „unbegründet“, findet er. „Während die EU-Länder sich in der Krise befinden, erlebt unser Land derzeit die demokratischste, erfolgreichste, modernste und transparenteste Periode seiner Geschichte“, so der Minister.

Trotz der sinkenden Zustimmung für einen EU-Beitritt im Land drängt die Türkei weiter vehement auf eine Vollmitgliedschaft noch vor 2023, der Hundertjahrfeier der Staatsgründung. „Wir bereiten uns darauf vor, Vollmitglied zu werden“, sagte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan jüngst bei einem Besuch mit Außenminister Ahmet Davutoğlu in Berlin. Er hoffe nicht, dass man sein Land bis 2023 „hinhalten werde“.

47 Prozent gegen Beitritt

In der europäischen Bevölkerung lässt die Skepsis angesichts eines möglichen Beitritts der Türkei indes langsam nach: So waren in Österreich 2010 noch 61 Prozent gegen einen Beitritt, heute sind es nur noch 47 Prozent.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.01.2013)

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