"Wir brauchen mehr Gleichgewicht gegenüber China"

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Europa und Amerika müssen sich gegen Chinas wirtschaftlichen Aufstieg wappnen, warnt EU-Handelskommissar Karel De Gucht. Das geplante Freihandelsabkommen mit den USA sei dafür unerlässlich.

Die Presse: Herr Kommissar, erklären Sie uns bitte eine Paradoxie: Alle sagen, wir brauchen jetzt unbedingt das Freihandelsabkommen mit den USA, um die Wirtschaftskrise zu bekämpfen. Aber die Krise währt seit 2008, und bis das Abkommen in Kraft ist, wird es ebenfalls noch Jahre dauern. Warum also jetzt?

Karel De Gucht: Sie haben absolut recht. Wir hätten das schon vor der Krise machen sollen. Seit 30 Jahren versucht man das. Vor fünf oder sechs Jahren hat es Angela Merkel probiert, aber sie hat es nicht geschafft. Ergebnis dessen war der Transatlantische Wirtschaftsrat. Im Rahmen dessen haben wir einige Fortschritte gemacht. Wenn Sie zum Beispiel einen Container in Posen kontrollieren, muss der bei der Ankunft in Houston nicht noch einmal kontrolliert werden.

Treibt Chinas Aufstieg die Europäer und Amerikaner zur Eile?

Nicht nur China. Die Globalisierung hat sich im letzten Jahrzehnt beschleunigt. Sie kann nicht mehr gestoppt werden. Sie bringt eine Menge guter Dinge, aber sie bringt unsere Gesellschaften durcheinander und verpflichtet uns zum Wandel. Ich würde nicht sagen, dass unsere traditionelle Führungsrolle in der Weltwirtschaft gefährdet ist. Aber sie wird geprüft. Es hat keinen Sinn, China als Feind zu sehen. Aber um die gute Freundschaft zu erhalten, braucht es ein bisschen mehr Gleichgewicht. Wenn wir nicht weiterhin eine führende Rolle beim Setzen von Standards und regulatorischen Normen spielen, werden klarerweise andere unsere Normen herausfordern und als Mittel verwenden, um intellektuelles Eigentum in ihre Regionen abzuziehen. Wenn wir unseren Wohlstand und unsere Sozialstaaten bewahren wollen, müssen wir unser geistiges Eigentum schützen. Sonst sind wir aus dem Rennen. Scheitern ist keine Option.

Sie beginnen die Verhandlungen mit Washington just in dem Moment, in dem Amerikas politisches System seine Unfähigkeit zum Kompromiss unter Beweis stellt. Woher rührt Ihre Zuversicht, dass der US-Kongress mitspielt?

Ein gutes Zeichen ist, dass Präsident Obama vergangene Woche den Kongress um das „Fast Track“-Verhandlungsmandat gebeten hat. Dann kann der Kongress am Ende nur mehr Ja oder Nein sagen.

Die Frage ist, ob er das Mandat bekommt, und zu welchen Bedingungen.

Ich gehe davon aus, dass der Präsident nur um etwas anfragt, von dem er überzeugt ist, dass er es bekommt.

Der Kongress hat Forderungen, die für die Europäer hart zu schlucken sein werden. Der erleichterte Import von gentechnisch veränderten Lebensmitteln in die EU zum Beispiel ist Conditio sine qua non.

Die Landwirtschaft wird natürlich eine wichtige Rolle spielen. Man wird Deals brauchen, um zu einer Lösung zu gelangen.

Das Europaparlament wird diesem Abkommen zustimmen müssen. Wieso glauben Sie, dass die Abgeordneten Sie nicht wieder im Stich lassen wie beim Anti-Piraterie-Abkommen ACTA?

So ist nun einmal das Spiel, das wir Demokratie nennen. Man kann nicht erwarten, dass alle 736 Abgeordneten gleich happy darüber sein werden. Aber allgemein gibt es breite parteienübergreifende Unterstützung.

Die Europäer sind aber amerikanischem Essen gegenüber sehr misstrauisch. Und die Amerikaner wollen mehr davon nach Europa verkaufen.

Wir auch. Wir wollen auch mehr Lebensmittel in die USA exportieren. Äpfel und Birnen zum Beispiel: Die können wir derzeit nicht in die USA verkaufen. Und kein Rindfleisch _ mehr als zwölf Jahre nachdem die BSE-Krise in Europa beendet worden ist. Frankreich, das die Öffnung der Märkte für Agrarprodukte besonders kritisch sieht, hat bei Lebensmitteln einen riesigen Exportüberschuss. Was die gentechnisch veränderten Produkte betrifft: Die können bereits jetzt unter bestimmten Bedingungen zugelassen werden, und so wird es auch in Zukunft sein. Derzeit sind 49 solche gentechnisch veränderten Produkte auf dem europäischen Markt erlaubt, davon zwei Lebensmittel für den Verzehr durch Menschen. Für die Zulassung gibt es in Europa jedoch strenge Regeln, und die werden sich durch ein Freihandelsabkommen nicht ändern.

Wie rasch soll es gehen?

Wir werden in den nächsten zwei Wochen dem Rat einen Entwurf für unser Verhandlungsmandat vorlegen. Das muss von den Ministern debattiert werden. Wir hoffen, dass wir die Verhandlungen dann Mitte Juni beginnen können. Ich kann mir kaum vorstellen, dass ein Mitgliedstaat den Beginn der Verhandlungen blockieren würde.

Sie könnten aber allerlei Themen wie die Landwirtschaft ausklammern oder Bedingungen stellen.

Ich gehe ungern mit gebundenen Händen in Gespräche. Das Mandat sollte so breit wie möglich sein.

Sollte man vor Beginn der Verhandlungen den Streit mit den USA um verbotene Subventionen für Airbus und Boeing beenden?

Meiner Meinung nach ja. Je länger sich das hinzieht, desto deutlicher sieht man, dass beide Seiten schuldig sind. Das sind zwei großartige Unternehmen, und wir sollten zusammenarbeiten, um der Konkurrenz aus China widerstehen zu können. Sie können nämlich darauf wetten, dass das kommende chinesische Großraumflugzeug riesig subventioniert wird. Europa und Amerika haben bei großen Flugzeugen noch ein Duopol. Aber nicht mehr lang. Es wäre also sinnvoller, Ressourcen in gemeinsame Forschungsprojekte zu stecken statt miteinander zu streiten.

Die laute Kritik an Kapitalismus und Freihandel ist da wohl nicht hilfreich.

Ich denke nicht, dass es bei diesem Abkommen um den Kampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus geht. Es geht um die Frage, ob freie Märkte zum Wohlstand beitragen. Ich bin nicht aus Ideologie für freie Märkte. Aber wie weit man auch in die Vergangenheit blickt: Noch nie hat sich eine Gesellschaft ohne Handel entwickelt. Es gab nie eine autarke Entwicklung einer großen Zivilisation. Nie.

Anmerkung der Redaktion: Durch die aus Platzgründen erforderliche Kürzung des Interviewtextes in der gedruckten Ausgabe vom 06.03.2013 entstand der Eindruck, die EU wolle ihre Regeln für die Zulassung gentechnisch veränderter Lebensmittel demnächst ändern. Um dieses Missverständnis auszuräumen, wurde die diesbezügliche Antwort des Kommissars in der gegenständlichen Online-Version präzisiert.

Zur Person

Karel De Gucht (59) ist seit Februar EU-Handelskommissar. Zuvor war der frühere belgische Außenminister einige Monate als Entwicklungshilfekommissar für seinen ins Europaparlament gewechselten Landsmann Louis Michel eingesprungen. Der flämische Liberaldemokrat ist Jurist und unterrichtete bis 2009 an der Vrije Universiteit Brussel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2013)

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