London stellt EU-Menschenrechte offen infrage

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Innenministerin Theresa May denkt laut über Rückzug ihres Landes aus dem Europäischen Gericht für Menschenrechte nach.

Brüssel. Seit Premierminister David Cameron seinen Mitbürgern ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU versprochen hat, vergeht kaum eine Woche ohne ein neues Zerwürfnis zwischen London und Brüssel. Nach den jüngsten Querelen über das Unionsbudget und den britischen Rabatt scheinen nun die Menschenrechte an der Reihe zu sein. Wie das Portal „EU Observer“ berichtet, hat Innenministerin Theresa May bei einer Veranstaltung der Ideenschmiede „Conservative Home“ am Wochenende einen Rückzug Großbritanniens aus dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Aussicht gestellt. Laut May braucht die Regierung bis 2015 (dem Zeitpunkt der nächsten Parlamentswahl) einen Plan zum künftigen Umgang mit dem in Straßburg ansässigen Gericht, der „alle Optionen“ beinhaltet – also auch den Austritt.

Mays Ankündigung hat zunächst einmal parteipolitische Beweggründe – die Innenministerin ist gerade dabei, sich als potenzielle Nachfolgerin von Cameron an der Spitze der zunehmend euroskeptischen Tories zu positionieren. Nichtsdestotrotz ist die Drohung ernst zu nehmen, denn die Kritik an der Arbeit des Gerichtshofs nimmt seit Jahren kontinuierlich zu. Die Vorwürfe der Briten: Die Institution sei überlastet und greife zu stark in nationale Entscheidungen ein. Zum letzten offenen Konflikt kam es im Jänner 2012, als die Straßburger Richter die Abschiebung des in London lebenden Islamisten Abu Qatada nach Jordanien untersagten – mit der Begründung, der der al-Qaida nahestehende Prediger könnte in Jordanien gefoltert werden.

Handfeste europäische Krise

Der Auszug aus dem Gericht für Menschenrechte wäre für Großbritannien zunächst einmal ein internationales PR-Desaster, denn in Europa sind nur zwei Staaten nicht in der Institution vertreten: Weißrussland und der Vatikan. Insgesamt unterliegen derzeit 47 Nationen der Straßburger Gerichtsbarkeit – darunter auch Russland, Aserbaidschan und die Türkei.

Abseits der fatalen Außenwirkung hätte der britische Abschied aber auch schwerwiegende Konsequenzen für die gesamte Union. Denn sollten die Briten dem Gerichtshof den Rücken kehren, müssten sie in Folge auch die seit 1953 geltende Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten aufkündigen. Paragraf 46 dieser Konvention besagt nämlich, dass sich alle Unterzeichner dazu verpflichten, die Urteile des Straßburger Gerichts zu befolgen.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt würde sich der britische Austritt zu einer handfesten europäischen Krise ausweiten: Zwar hat die EU als Rechtssubjekt – anders als ihre Mitglieder – die Konvention nicht unterzeichnet, doch der Artikel 6 des EU-Vertrags verpflichtet die Union explizit dazu, dem Abkommen beizutreten. Die juristisch-organisatorischen Vorbereitungen dafür laufen seit 2010.

Einstimmiger Beschluss nötig

Das Problem: Die Unterzeichnung der Menschenrechtskonvention muss im EU-Rat einstimmig beschlossen werden. Sind die Briten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Straßburg vertreten, können sie diesen Beschluss naturgemäß nicht mittragen – was die paradoxe Folge hätte, dass die Union ihren Grundvertrag brechen müsste.

Die Stellung der Menschenrechtskonvention in den EU-Mitgliedsländern variiert. Während sie in Deutschland unter dem Grundgesetz rangiert, ist sie in Österreich im Verfassungsrang. Ergänzt wird die Konvention durch die 2009 in Kraft getretene EU-Charta der Grundrechte, die unter anderem ein Klon-Verbot von Menschen beinhaltet. In Großbritannien kommt die Charta nicht zur Geltung.

Auf einen Blick

Die britische Kritik an der Arbeit des Europäischen Gerichts für Menschenrechte nimmt seit Jahren zu. Der letzte offene Konflikt liegt ein Jahr zurück: Anfang 2012 untersagten die Straßburger Richter die Abschiebung des in London lebenden islamistischen „Hasspredigers“ Abu Qatada nach Jordanien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.03.2013)

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