Briten und Binnenmarkt: Ziemlich beste Freunde

Großbritannien. Selbst die EU-Gegner haben bisher den gemeinsamen Markt verteidigt – doch die Handelsströme ändern sich. In den vergangenen Jahren nahmen die Exporte in EU-Partnerländer ab, in den Rest der Welt dagegen zu.

London. Wenn es eine Sache gibt, auf die sich britische EU-Gegner und Befürworter bisher einigen konnten, dann war es der gemeinsame europäische Binnenmarkt. „Großbritannien steht im Zentrum des gemeinsamen Marktes, und das muss auch so bleiben“, sagte Premierminister David Cameron in seiner Rede Mitte Jänner, in der er eine Volksabstimmung über den Verbleib seines Landes in der EU bis Ende 2017 ankündigte. Eine vertiefte und von Handelsschranken befreite Zusammenarbeit war es auch, die den Briten in ihrer ersten Europa-Volksabstimmung 1975 über den Beitritt zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft versprochen wurde.

Doch während damals 67,2 Prozent für den Beitritt stimmten, hat sich das Meinungsbild seither dramatisch verändert. Nicht nur sehen sich die Briten von der politischen und gesellschaftlichen Dimension Europas oft überrollt: Auch in der Wirtschaft wandelt sich das Bild. Nach einer Umfrage der „Financial Times“ im Februar glaubt mit 45 Prozent zwar eine relative Mehrheit der Briten, dass ihr Land als EU-Mitglied wirtschaftlich besser gestellt sei. Doch nur 31 Prozent fürchten, dass ein Austritt ihrer Wirtschaft schaden würde.

Ungenügende Liberalisierung

Größter Kritikpunkt ist, dass die Liberalisierung in Europa nicht weit genug fortgeschritten und oft immer noch Stückwerk ist. In diese Kerbe schlug auch Cameron: „Wenn der gemeinsame Markt in Sektoren wie Dienstleistungen, Energie und neue Medien unvollständig bleibt, dann ist er nur der halbe Erfolg, der er sein könnte.“ Selbst der EU-freundliche Thinktank „Open Europe“ kritisiert die anhaltende vermeintliche Regulierungswut der Brüsseler Behörden: Während die britische Regierung mit der 2005 eingeführten „Better Regulation Agenda“ einen Schritt zur Entlastung der Wirtschaft getan habe, hätten „sich die EU-Kosten seither verdoppelt“.

Dennoch erscheint die Mitgliedschaft weiter konkurrenzlos. Europa ist mit 53 Prozent der britischen Exporte (2011) mit Abstand der größte Absatzmarkt. Nach Berechnungen des Ökonomen Iain Begg von der London School of Economics hängen rund drei Millionen Arbeitsplätze in Großbritannien von dem Handelsaustausch mit Europa ab. Dabei stehen die Briten freilich tief in der Kreide: Britischen Ausfuhren von 159 Milliarden Pfund stehen Einfuhren aus dem gemeinsamen Markt von 202 Milliarden Pfund gegenüber.

Die Vorteile der Mitgliedschaft im gemeinsamen Markt gehen aber weiter. Großbritannien beherbergt 468 multinationale Konzerne, während es in Deutschland nur 86 und in Frankreich 77 sind. Neben der englischen Sprache nennt die Lobby-Gruppe „CityUK“ die Zugehörigkeit zum EU-Markt als wichtigsten Grund für die Standortentscheidung. Immer noch ist Großbritannien einer der fünf größten Empfängerstaaten für ausländische Direktinvestitionen, die bei einem Austritt aus dem gemeinsamen Markt in Gefahr wären. Das Institute for Economic and Social Research rechnet für diesen Fall mit einem permanenten BIP-Verlust von 2,25 Prozent. Unter der Oberfläche aber zeigt sich einiges an Bewegung. Die Zahl der britischen Betriebe, die mit den EU-Partnern Handel treiben, geht rasant zurück, die Teilnehmer am gemeinsamen Markt werden immer mehr zu einer spezialisierten Elite der britischen Wirtschaft. Auch die Handelsbilanz insgesamt ist rückläufig: Während die britischen Exporte in den gemeinsamen Markt 2012 um fünf Prozent fielen, nahmen sie in den Rest der Welt um sieben Prozent zu. Selbst die starke Abwertung ihres Pfundes hilft den Briten angesichts der tiefen Krise in der Eurozone nicht. Europa-Gegner wie der konservative Abgeordnete Bill Cash meinen daher: „Es ist Zeit, mit dem Mythos der britischen Abhängigkeit vom Binnenmarkt aufzuräumen.“

Von einem Austritt erhoffen sich Cash und Freunde Kostenersparnisse durch weniger Regulierung und Entfall des britischen Nettobeitrags von derzeit acht Milliarden Pfund im Jahr. Die Bandbreite der Alternativvorstellungen reichen von Freihandelsabkommen nach dem Vorbild der Schweiz oder Norwegens bis zur Schaffung einer gemeinsamen Zollunion ohne gemeinsamen Markt.

Hinter ihrer europakritischen Rhetorik setzt die Regierung ausgerechnet auf eine Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit zur Finalisierung des gemeinsamen Marktes. Eine aktuelle Studie des Wirtschaftsministeriums erteilt Ideen wie einem Rückzug Großbritanniens auf den europäischen Wirtschaftsraum oder die Efta ebenso eine Absage wie einen Beitritt zur nordamerikanischen Freihandelszone Nafta. Stattdessen heißt es: „Die vollständige Umsetzung des gemeinsamen Marktes würde in zehn Jahren ein Wirtschaftswachstum von zusätzlichen 14 Prozent freisetzen – Großbritannien allein könnte mit einem Einkommenszuwachs von sieben Prozent rechnen.“ Und, als warnender Nachsatz: „Großbritannien würde diese Vorteile nicht lukrieren, wenn Europa diese Reformen ohne die Briten umsetzt.“

Auf einen Blick

Britische EU-Gegner und Befürworter waren sich bisher zumindest darüber einig, dass der europäische Binnenmarkt für das Land von großer Bedeutung sei. Europa ist mit 53 Prozent der Exporte der größte britische Absatzmarkt. Rund drei Mio. Arbeitsplätze hängen von dem Handelsaustausch ab. Doch die Exporte ins EU-Ausland fielen zuletzt um fünf Prozent, in den Rest der Welt nahmen sie dagegen um sieben Prozent zu.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.04.2013)

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