Andrew Moravcsik: "Europa ist auf der richtigen Seite der Geschichte"

Europa richtigen Seite Geschichte
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Nicht China, sondern Europa wird die zweite Weltmacht des 21. Jahrhunderts sein, meint Andrew Moravcsik von der Universität in Princeton, im Gespräch mit der „Presse". Der Euro sei dabei aber hinderlich.

Die Presse: Herr Professor, Ihre These lautet, dass Europa im 21. Jahrhundert die zweite Weltmacht neben den USA sein wird - und nicht, wie meist behauptet, China. Wieso?

Andrew Moravcsik: China ist in den meisten Belangen wie zum Beispiel dem Warenhandel ein ziemlich kleines Land; es ist gleichsam ein ostasiatisches Deutschland oder Frankreich. Es ist eine kleinere militärische Macht als Europa. Es ist militärisch in der Welt deutlich weniger aktiv. Europa hatte in den vergangenen 20 Jahren fast durchgehend 50.000 bis 100.000 Kampftruppen rund um die Welt im Einsatz; China hatte bestenfalls 2000. Seine Militärausgaben betragen etwas weniger als die Hälfte der europäischen, seine Luftwaffe ist etwas größer als die britische. Sein Handelsüberschuss war zuletzt kleiner als der deutsche. Und in den meisten nicht-militärischen Formen der Machtentfaltung - dem Einfluss auf globale Ideen, der Schaffung kreativer Lösungen von internationalen Konflikten - ist China ein bei Weitem weniger erfolgreiches und mächtiges Land als Europa oder die USA.

Gut. China wächst aber recht schnell. In 50 Jahren sieht die Sache anders aus.

Ja. Aber selbst wenn Chinas gesamte Wirtschaftsleistung wächst, bleibt doch die Wirtschaftsleistung pro Kopf relativ klein. Darum hat es weniger verfügbare Geldmittel. In internationalen Fragen aktiv zu sein, ist nämlich heutzutage ein Luxus. Im 19. Jahrhundert war das anders. Damals war es notwendig, eine möglichst große Armee zu haben, weil politische Macht direkt von möglichst großer Landmasse und möglichst zahlreicher Bevölkerung abhing. Heute ist das ein Luxus. Und China hat andere Dinge zu tun - zum Beispiel, das eigene Land zu entwickeln. Ich habe neulich ein Jahr in China gelebt und muss sagen: Das ist ein vergleichsweise gut verwaltetes Land. Die Chinesen geben vernünftigerweise einen geringen Teil ihrer Wirtschaftsleistung für das Militär und einen viel größeren für die Dinge, die sie wirklich tun müssen. Und das werden sie noch auf absehbare Zeit weiterhin so tun.

Ihr Argument beruht im Kern auf der kulturellen Anziehungskraft einer politischen Union ziemlich wohlhabender Nationen.

Ich denke, dass es seit dem Ende des Kalten Kriegs kein außenpolitisches Werkzeug gab, das günstiger oder wirksamer war als die EU-Erweiterung. Zweifellos. Das war viel günstiger und wirksamer, als im Irak und in Afghanistan herumzustümpern. Und viel günstiger als alles, was China gemacht hat. Ich bin allerdings anders als die Leute in der Europäischen Kommission weniger davon überzeugt, dass sich nun weltweit Gruppen von Staaten nach dem Vorbild der EU zusammenschließen wollen. Die europäischen Werte lassen sich wesentlich besser als die amerikanischen oder die chinesischen Werte transportieren - allen voran der soziale Wohlfahrtsstaat, eine relativ unmilitärische Außenpolitik, ein Kapitalismus, der auf dem Markt basiert, ohne libertär zu sein. Und ob die Europäer sie aktiv bewerben oder nicht: Europa ist auf der richtigen Seite der Geschichte.

Mag sein. Die EU-Erweiterung ist derzeit aber auf dem toten Gleis. Armenien und Moldawien haben erst vor Kurzem erklärt, kein Assoziierungsabkommen mit der EU schließen zu wollen, sondern sich an Russland anzunähern. Und mit der Türkei geht auch nichts weiter.

Das ist richtig. Im Fall der Türkei würde ich aber einen Sieg ausrufen und Stop sagen: Hier ist ein Land, das in einer Zollunion mit der EU ist und eine Art von Übergang zur Demokratie macht. So oder so würde die Türkei nie ein Vollmitglied der EU ohne Ausnahmen wichtiger Teilbereich werden. Sie wird also ein Teilmitglied innerhalb oder außerhalb der EU sein. Somit hat Europa es geschafft, die Türkei ein weites Stück weg von dort hinzubekommen, wo sie ansonsten hätte sein können. Das nenne ich einen Erfolg.

Finden Sie, dass wir Europäer zu sehr nach perfekten Lösungen suchen, statt mit dem Erreichten zufrieden zu sein?

Ja. Es ist ironisch. Wenn Sie nach Brüssel kommen und 100 Leute fragen, ob sie an die Vereinigten Staaten von Europa glauben oder den europäischen Zentralstaat, werden alle 100 nein sagen. Und dennoch handeln sie so, als würden sie es tun. Denn jedes Mal, wenn die Dinge wieder einmal aufhören, sich Richtung Vertiefung der Union zu bewegen, sagt jeder: Der Himmel fällt uns auf den Kopf. Es ist ein Zeichen des Erfolgs der Union, dass man vernünftige Entscheidungen darüber treffen kann, was eine wirksame und was eine zwecklose Politik ist, ohne damit die gesamte Institution in Frage zu stellen. Die EU gibt es länger als die meisten heutigen Demokratien. Und sie wird nicht verschwinden. Sie ist nämlich in den ureigensten Interessen der Europäer verwurzelt. Würde also morgen der Euro zusammenbrechen, würde das nichts daran ändern, dass die Europäer ein fundamentales Interesse am Binnenmarkt, an der Abwesenheit von Grenzkontrollen, am Erasmus-Programm und vielem anderen haben. Die Europäer haben eine Neigung, in dieser föderalistischen Vision der 1950er-Jahre zu denken.

Wieso?

Weil sie nicht zu einem neuen, pragmatischen Diskurs über die europäische Integration finden. Und der Grund dafür wiederum ist, dass sich die meisten Leute in Europa nicht für die europäische Integration interessieren. Die Leute hingegen, die ihre Zeit damit verbringen, darüber nachzudenken, sind entweder sehr europhil oder sehr europhobisch. Die sitzen dann auf ARD oder TF1 und diskutieren über Europa in föderalistischen Begriffen. Das ist einem pragmatischen Diskurs nicht dienlich. Und es ist in Washington und Peking besonders schädlich. Sie haben binnen zwei Jahrzehnten den Binnenmarkt geschaffen, die meisten Binnengrenzen abgeschafft, eine gemeinsame Währung gegründet; das sollten die Europäer bewerben. Aber jedes Mal, wenn sie hier her kommen, schlagen sie die Hände über dem Kopf zusammen und klagen darüber, in einer Krise zu stecken. Und die Amerikaner und Chinesen, die keine Ahnung von Europa haben, denken sich: Oh, Europa muss schrecklich sein, wenn das sogar die Europäer selber sagen!

Sollten wir also Schuman, Monnet und die anderen Gründerväter der Union in Frieden ruhen lassen?

Auch wenn ich mich jetzt unbeliebt mache: Sie sollten zumindest damit anfangen, den jungen Leuten die Wahrheit darüber beizubringen, wie die europäische Einigung wirklich zustande kam. Jean Monnet war zum Beispiel gegen die Zollunion. Er war nämlich für eine zentralisierte, regulierte Form der Integration. Er mochte die Kohle- und Stahlgemeinschaft; das war ein Sektor staatlicher Intervention, von dem sich Monnet vorstellte, dass die zentralisierten Regulatoren politische Macht in Brüssel schaffen würden. Diese Idee wurde auf Druck der deutschen und französischen Industrie abgewürgt. An ihre Stelle trat die Zollunion. Monnet lehnte sie monatelang ab, weil er sich nicht vorstellen konnte, wie sie mit politischem Inhalt erfüllt werden könnte. Letztlich aber war die Zollunion eine Idee von politischer Veränderungskraft, weil sie die Interessen der Europäer änderte und eine Wiederholung des protektionistischen Wirtschaftskrieges der 1930er-Jahre unmöglich machte.

Die Europäer machen sich jetzt nach zehn Jahren wieder an eine Verfassungsdebatte. Was ist dabei Ihrer Meinung nach am Wichtigsten?

Nun, ich bin ich kein großer Fan des Euro...

Der ist aber nun einmal da.

Das ist kein guter Grund. Wenn man sagt: Wir sollten den Euro behalten, weil er nun einmal da ist, macht man denselben Fehler, den die Amerikaner stets in Kriegen machen. Die Amerikaner haben die Angewohnheit, aus schlechten Gründen in Kriege zu geraten, ob das nun in Vietnam oder im Irak ist. Nach etwa drei Jahren sagen wir dann: Wir hätten diesen Krieg nicht anfangen sollen. Darauf sagt dann jemand: Ja, Sie haben recht, aber jetzt müssen wir weiter machen und schauen, wie wir ihn gewinnen. Beim Euro ist das genauso. Die Probleme mit ihm sind ziemlich grundlegend. Er schafft Anreize für Länder, Dinge zu tun, die nicht zu hohem Wachstum oder makroökonomischem Gleichgewicht passen. Entweder finden sie radikale Lösungen für dieses Problem, was ich nicht für wahrscheinlich halte. Oder aber einige Länder müssen darüber nachdenken, den Euro aufzugeben. Wäre ich Italiener oder Spanier, würde ich das tun. Politisch ist das natürlich schwer zu machen. Politiker meiden nämlich immer kurzfristige ideologische und politische Kosten, um für langfristigen Nutzen zu zahlen. Das ist seltsam, weil die Berechtigung für den Euro bekanntlich war: Ja, der Euro nötigt uns harte Bedingungen ab, doch langfristig ist er gut für uns. Jetzt heißt es: Es wäre wahrscheinlich langfristig für uns gut, keinen Euro zu haben, aber kurzfristig sind die Kosten fürs Austreten zu hoch. Das ist pervers.

Die Europäer sollten also die Währungsunion neu gründen?

Sie sollten auf jeden Fall ehrlich sein. Das würde auch all die Dinge stärken, die gut funktionieren: der Binnenmarkt, die außenpolitischen Aktivitäten könnten besser funktionieren, sind aber ganz okay, die Fragen der inneren Sicherheit und der sozialen Zusammenarbeit funktionieren besser und besser. Es gäbe also meiner Meinung nach ein proeuropäisches Argument, es dem Euro nicht zu erlauben, Druck auf andere erfolgreiche Politiken der europäischen Einigung auszuüben. Und die Europäer sollten auch ehrlich mit den Dingen umgehen, die ihnen gelingen. Nehmen Sie die Intervention in Libyen vor zwei Jahren: Die Europäer haben sich dazu entschlossen, einzugreifen, haben die Amerikaner an Bord geholt, 75 Prozent der Kosten dafür gezahlt und für rund eine Milliarde Dollar einen Diktator gestürzt und eine neue Regierung eingesetzt. Das funktionierte relativ gut - doch in der Presse wurde es fast ausschließlich als Scheitern präsentiert. Wieso? Weil nicht alle Europäer mitmachten, allen voran die Deutschen. Das war ein Triumph abstrakter Verfahren über pragmatischen Erfolg. Kein Amerikaner oder Chinese würde sagen: Ja, wir haben etwas geleistet, aber leider war es ein Versagen, weil die Verfahrensregeln nicht eingehalten wurden.

Zur Person

Andrew Moravcsik leitet das Europa-Studienprogramm an der Princeton University. Der 1957 geborene Politikwissenschaftler hat 1998 mit „The Choice for Europe: Social Purpose and State Power from Messina to Maastricht“ das Standardwerk zur Frage verfasst, wieso sich die Europäer dazu entschlossen haben, im europäischen Einigungsprojekt nationale Hoheit nach Brüssel abzugeben. Der profilierte Opernkenner (er veröffentlicht immer wieder musikwissenschaftliche Essays) ist mit Anne-Marie Slaughter verheiratet, die ebenfalls in Princeton internationale Politik lehrt und erforscht und von 2009 bis 2011 im Außenministerium unter Hillary Clinton für politische Planung zuständig war. Moravcsik sprach mit der „Presse“ in Washington am Rande eines Vortrages an der Paul H. Nitze School for Advanced International Studies der Johns Hopkins University.

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