Die deutsche Angst vor armen Migranten

Mann vor Sozialamt
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Ist eine „Einwanderung ins Sozialsystem“ möglich? Die Antwort der Richter steht aus, betroffene Kommunen stöhnen. In Summe aber profitiert der Arbeitsmarkt von der Ostöffnung.

Berlin. Eine Roma-Familie bereitet deutschen Politikern Kopfzerbrechen. Vor fünf Jahren kam sie aus Rumänien nach Gelsenkirchen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Allein, eine reguläre Arbeit war nicht zu kriegen: keine Qualifikation, keine Deutschkenntnisse. Um bleiben zu dürfen, meldete der Vater ein Gewerbe („Hilfsarbeiten auf Baustellen“) an, das er nie ausübte. Um seine Familie zu ernähren, verkaufte er eine Obdachlosenzeitschrift. Das gilt als Betteln, nicht als Arbeit. Sein Antrag auf „Stütze“ wurde abgelehnt. Doch dann nahm sich ein Anwalt der Sache an. Und vor drei Monaten gab ein Sozialgericht in vorletzter Instanz der Familie überraschend recht: Sie hat einen Anspruch auf Hartz IV.

Das Urteil sorgte für Aufsehen. Neue Schlagwörter sind nun in aller Munde: „Armutsmigration“ und „Einwanderung ins Sozialsystem“. Die bayerische CSU nahm sich des Themas politisch an. Pünktlich zur letzten Stufe der Öffnung des EU-Arbeitsmarktes, der vollen Freizügigkeit für Rumänen und Bulgaren ab 1. Jänner, lancierte sie den markigen Slogan „Wer betrügt, der fliegt“ – und erntete dafür heftige Kritik, auch vom Koalitionspartner SPD. Die konkrete Forderung dahinter steht freilich – etwas freundlicher formuliert – auch im Koalitionsprogramm: „Wir werden der ungerechtfertigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch EU-Bürger entgegenwirken.“ Dafür müssten „Leistungsausschlüsse präzisiert“ werden. Befristete Wiedereinreisesperren seien sogar „notwendig“ – nur mit EU-Recht müsse alles zusammenpassen.

Der Ball liegt nicht bei Brüssel

An den Europäischen Gerichtshof hat nämlich auch das Bundessozialgericht die heiße Kartoffel weitergereicht. Die Kasseler Richter drückten sich in letzter Instanz vor einer Entscheidung im Gelsenkirchner Fall. Zuerst sollen die Kollegen in Luxemburg zur „Anwendung des Gleichstellungsgrundsatzes bei Sozialleistungen“ Stellung nehmen.

Damit auch sie Sozialhilfen für alle einfordern, müssten sie allerdings das geltende EU-Recht aus den Angeln heben. Denn die Freizügigkeitsrichtlinie sieht ausdrücklich Schutz vor Missbrauch vor (siehe Seite eins). In Brüssel sorgt die Aufregung denn auch für Kopfschütteln: Das Urteil habe „nichts mit EU-Recht“ zu tun, betont Justizkommissarin Viviane Reding: „Wenn nationale Sozialsysteme zu großzügig sind, dann ist es die Sache der Mitgliedstaaten, das zu ändern.“ Diese „Hausaufgaben“ hat Österreich gemacht, nicht aber Deutschland. Zwar gibt es auch in deutschen Gesetzen Ausschlussgründe für frisch angekommene Arbeitssuchende mit realistischen Chancen. Aber wie die Richter in der Causa Gelsenkirchen spitzfindig feststellten: Gerade weil die Jobsuche des Roma-Ehepaares auf Dauer aussichtslos war, haben sie laut Verfassung Anspruch auf Hilfe.

Diese seltsame Gesetzeslücke will die CSU schließen. Droht andernfalls tatsächlich eine Welle von EU-Migranten, die sich eine Grundsicherung „erschleichen“ wollen? Die meisten Ökonomen sehen die Arbeitsmarktöffnung für die beiden ärmsten EU-Staaten gelassen. Die alternde Gesellschaft braucht Arbeitskräfte von außen. Ein Fünftel der Rumänen und Bulgaren, die nach Deutschland ziehen, haben einen Hochschulabschluss, ein weiteres Drittel eine Lehre oder Berufsausbildung. Sie sind seltener arbeitslos als der Schnitt der Bevölkerung. Bei den Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn führte der zweite Schritt der Öffnung (2011) nicht zu einem Ansturm, sondern eher zu einer Stabilisierung: Viele, die schon im Land waren, können nun regulär arbeiten. Die Folge: Die Arbeitslosenquote unter Bürgern aus EU-8-Staaten ist gesunken, ebenso der Anteil der Bezieher von Arbeitslosengeld.

Großes Problem für wenige Städte

Das können die Forscher des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) für den neuen Schritt nicht versprechen. 100.000 bis 180.000 Rumänen und Bulgaren erwarten sie heuer, nach 70.000 im Vorjahr. Zumindest absolut wird die Zahl der Leistungsbezieher steigen, um etwa 10.000 im besten und 60.000 im schlechtesten Fall. Denn einen Unterschied zu Polen oder Tschechen gibt es: Mit 46 Prozent sind ungewöhnlich viele unqualifiziert.

Was drückt den Schnitt bei den Rumänien und Bulgaren? 30 Prozent der Erwerbsfähigen sind nicht erwerbstätig, beziehen aber kein Arbeitslosengeld. Das sind nicht nur Studenten und Hausfrauen. Es geht auch um bitterarme Menschen am Rande der Gesellschaft, vor allem um Roma – und sie sind das eigentliche Problem, das sich hinter der „Armutsmigration“ verbirgt. Die meisten Deutschen bekommen davon wenig mit. Denn es konzentriert sich auf einzelne Stadtviertel einiger „strukturschwacher“ Städte: Duisburg, Dortmund, Offenbach, aber auch Berlin. Diese Kommunen mit chronisch leeren Kassen finanzieren nun teure Zusatzleistungen: Unterkünfte, zusätzliche Sozialarbeiter, Müllmänner, Polizisten, dazu mehr Lehrer zur Integration von Kindern, die kein Wort Deutsch sprechen. Die Bürgermeister fordern verzweifelt zusätzliche Mittel vom Bund, die ihnen die Große Koalition auch zugesichert hat.

Die klagende Roma-Familie in Gelsenkirchen hat inzwischen einigermaßen Fuß gefasst. Die Mutter ging drei Monate in einen Integrationskurs, kann nun etwas Deutsch und arbeitet als Putzkraft. Damit ist ihr heutiger Status geklärt: Der Staat stockt ihr geringes Gehalt auf das Existenzminimum auf.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.01.2014)

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