Karlsruhe hilft kleinen Parteien ins EU-Parlament

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Die deutschen Verfassungsrichter kippen die Drei-Prozent-Hürde für die Europawahl. EU-Abgeordnete fürchten nun mehr Zersplitterung und radikale Kräfte.

Berlin. In Deutschland gibt es so manche Parteien, die man zumindest als Österreicher nicht unbedingt kennen muss – etwa die Tierschutz- oder die Familienpartei. Die EU-Parlamentarier würden allerdings mit Kollegen aus solchen Splittergruppen schon Bekanntschaft gemacht haben, hätten die deutschen Verfassungsrichter bereits vor der letzten Europawahl so entschieden wie gestern: Nach dem Urteil der roten Roben ist die Drei-Prozent-Hürde für die Wahl im Mai verfassungswidrig.
Damit geben die Richter in Karlsruhe mit knapper Mehrheit (fünf zu drei) der Klage einer Reihe von Kleinparteien statt, von den Piraten über die Freien Wähler bis zur rechtsextremen NPD. Ihre Chancen bei der Europawahl sind damit drastisch gestiegen: Als bevölkerungsreichster EU-Staat stellt Deutschland 96 von 751 Abgeordneten. Schon etwa ein Prozent der Stimmen genügt, um einen Mandatar nach Straßburg entsenden zu können.
Bereits 2011 hatte Karlsruhe eine Fünf-Prozent-Schwelle gekippt. Die Ersatzregelung mit der Drei-Prozent-Hürde ist erst seit Herbst in Kraft. Für die obersten Richter aber widersprechen Hürden prinzipiell der Wahlrechtsgerechtigkeit: Die Stimme jedes Wählers muss die gleiche Chance haben.

Warum akzeptieren sie dann aber eine Hürde im Bundestag? Ein nationales Parlament, so die Begründung, ist nur funktionsfähig, wenn es in der Lage ist, eine stabile Regierungsmehrheit zu bilden. Dieser gewichtige Grund erlaube eine Ausnahme vom hehren Prinzip. Anders im Europaparlament, wo ohnehin bereits 162 Parteien vertreten sind. Hier wird über Sachfragen mit oft wechselnden Koalitionen abgestimmt.

Befürworter der Europawahl-Hürde entgegnen, dass Abgeordnete von Kleinparteien meist nicht bei einer großen Fraktion Anschluss finden und als isolierte Einzelkämpfer für eine Zersplitterung sorgen. Für Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle ist es aber „nicht ersichtlich, wieso eine Aufnahme in eine Fraktion von vornherein nicht möglich sein sollte“.

Faktische Hürde in Österreich


Was bedeutet die deutsche Entscheidung für Österreich? Nicht viel. Hierzulande gilt eine Vier-Prozent-Schwelle für die Europawahl. Doch selbst wenn nun auch heimische Kleinparteien gegen die Sperrklausel erfolgreich klagten, würden sich ihre Chancen damit kaum erhöhen. Bei einem kleinen Land mit künftig 18 Sitzen besteht schon eine faktische Hürde, die Splittergruppen von Straßburg fernhält. Insgesamt haben 13 EU-Staaten keine Sperrklausel, darunter auch Großbritannien und Spanien.
Relevant sind die Hürden in großen Staaten wie Frankreich, Italien und Polen. Nimmt man hypothetisch an, auch dort würden sie fallen, kämen zu den bestehenden 162 Parteien in Summe etwa 20 bis 25 hinzu. Aus solchen Zahlenverhältnissen zogen die Richter schon 2011 den Schluss, dass sich ohne Sperrklausel an der Funktionsfähigkeit des Parlaments nicht allzu viel ändern dürfte.

Dennoch kämpft man in Straßburg für Mindestschwellen. Vor zwei Jahren forderten die Abgeordneten die Mitgliedstaaten sogar in einer Entschließung auf, solche festzulegen, weil die Bedeutung stabiler Mehrheiten durch die Aufwertung des EU-Parlaments gewachsen sei. Voßkuhle akzeptiert diese Tendenz: Das Parlament sei auf dem Weg, sich als Gegenspieler zur Kommission zu profilieren. Aber diese Entwicklung stehe eben erst am Beginn.

Enttäuscht zeigten sich Parlamentarier aus Union und SPD über die Entscheidung. „Nun müssen wir mit dem Urteil leben“, seufzt CSU-Abgeordneter Markus Ferber. Das bedeute auch, dass man „radikale Kräfte aus Deutschland“ im EU-Parlament haben werde – „keine sehr angenehme Situation“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2014)

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