Die europäische Bürgervertretung ist mittlerweile ein entscheidendes Organ bei fast allen Gesetzgebungsverfahren der Union. Die Bevölkerung selbst aber nimmt die einzige direkt gewählte EU-Institution bis heute kaum wahr.
Wien. Hinter jeder der 24 Glasscheiben am oberen Ende des Plenarsaals im Straßburger EU-Parlament sitzen drei Dolmetscher. Sie tragen große Kopfhörer und haben Manuskripte vor sich liegen, einige von ihnen gestikulieren wild. Die Debatte unter den Abgeordneten ist hitzig: Es geht um die EU-Flüchtlingspolitik, die das Parlament wie so viele andere wichtige Themen entscheidend mitbestimmt.
Ohne die Simultanübersetzer wäre ein reibungsloser Ablauf von Fraktions-, Ausschuss- und Plenarsitzungen in der europäischen Bürgervertretung, wo Mandatare aus 28 Mitgliedstaaten über Zukunftsfragen der Union mit ihren mehr als 500 Millionen Bürgern entscheiden, gar nicht möglich. 24 Amtssprachen gibt es in der EU; doch die Vielfalt der Meinungen, kulturellen Werte und politischen Weltanschauungen, die sich unter dem Dach des Europäischen Parlaments sammeln, lässt sich damit freilich nicht ansatzweise umschreiben. Zwar arbeiten alle hier von außen betrachtet für das gleiche Ziel: Ein besseres Europa. Wie sich das verwirklichen lässt, und wie das ideale Konzept einer „Europäischen Union der Zukunft“ überhaupt aussehen sollte, darüber gehen die Meinungen aber zweifellos stark auseinander. Den mit Abstand größten Block in der Bürgerkammer bilden – in einer groben Unterteilung – die EU-freundlichen Kräfte, die ein engeres Zusammenwachsen der Nationalstaaten in wesentlichen Fragen wie Wirtschafts- und Außenpolitik befürworten. Dazu zählen die Europäische Volkspartei, die Sozialdemokraten, die Liberalen und die Grünen. Aber es gibt auch Zusammenschlüsse von Europaskeptikern und -gegnern, von denen manche für die völlige Auflösung der Union eintreten.
Über Parteigrenzen hinweg
„In Vielfalt geeint“ – das Europamotto schlechthin trifft also von allen EU-Institutionen am ehesten auf das Parlament zu. Wer hier arbeitet, kennt bald die Stärken und Schwächen von Vertretern anderer Nationen und weiß sie bewusst für eigene Zwecke einzusetzen. Zusammenarbeit findet auf allen Ebenen statt; Parteigrenzen bilden im Vergleich zu nationalen Parlamenten eine geringe Hürde bei der Bildung von Allianzen. Der meist freundliche Umgangston von Abgeordneten unterschiedlicher politischer Ideologien hat schon manchen österreichischen Nationalratsmandatar verblüfft, der sich ein Bild von der Arbeit seiner Kollegen in Brüssel oder Straßburg gemacht hat. Auch, dass es bei den entscheidenden „Votes“ im Ausschuss oder Plenum keinen Klubzwang gibt, jeder Abgeordnete also völlig unabhängig von der Linie seiner Fraktion über Gesetzestexte abstimmen kann, ist eine Eigenheit der europäischen Bürgerkammer.
Seit dem Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist, hat das EU-Parlament – die einzige direkt demokratisch gewählte Institution der Union – mehr Macht als je zuvor: In fast allen Politikbereichen kommt das ordentliche Gesetzgebungsverfahren zur Anwendung, bei dem sich Parlament und Rat über einen Gesetzesvorschlag der Kommission abstimmen müssen. Keine Richtlinie in gewichtigen Themen wie Landwirtschaftspolitik, Zuwanderungsfragen, Energiepolitik oder Regionalförderung verlässt Brüssel ohne die Zustimmung des Parlaments, das allerdings nach wie vor kein Initiativrecht für Gesetze hat.
Die Abgeordneten haben ihre neuen Kompetenzen in der vergangenen Legislaturperiode bewusst ausgespielt und nicht nur bei medial aufgeheizten Themen Stärke demonstriert. So scheiterten mehrere Initiativen der Kommission – etwa die Saatgut-Verordnung oder das multilaterale Handelsabkommen ACTA – am Nein der Bürgervertretung. Andere Vorhaben, wie der einheitliche EU-Datenschutz, werden in den zuständigen Ausschüssen durch Änderungsanträge „bürgerfreundlicher“ gemacht. Doch auch wenn der Bekanntheitsgrad des Parlaments durch die neu erlangten Kompetenzen steigt und heute schon bei 95 Prozent liegt, so bleibt es doch so etwas wie das unbeachtete Stiefkind im europäischen Institutionengefüge.
Während die Kommission den Ruf hat, in alles „hinein regieren“ zu wollen, dafür aber wenigstens mächtig zu sein, wird die Bürgervertretung von jenen, die sie eigentlich vertritt – den Bürgern – oftmals kaum wahrgenommen oder lediglich als kopfloser Debattierklub betrachtet, dessen Mitglieder dafür, was sie tun, viel zu viel verdienen. Dabei bemühen sich die Abgeordneten selbst redlich, ihr Image aufzupolieren. Unermüdlich führen sie Besuchergruppen durch das Parlamentsgebäude oder nehmen an Diskussionsveranstaltungen in ihrem Wahlkreis teil. Das Interesse an ihrer Arbeit bleibt dennoch enden wollend. Einerseits liegt das an dem viel zitierten Problem, dass nationale Politiker die Europaabgeordneten teilweise wie Aussätzige behandeln und nur selten eine so genannte „Zukunftshoffnung“ der Partei an Brüssel verlieren wollen. Doch auch in den Medien geht die Berichterstattung häufig am Kern der Sache vorbei. Artikel über angeblich üppige Tantiemen bleiben in den Köpfen der Leser eher hängen als der Erfolg bei der Abänderung einer bestimmten Richtlinie – auch wenn dies einen direkten Vorteil für den Bürger bedeutet.
Der Frust über die mangelnde Honorierung der Arbeit des EU-Parlaments im Heimatland eint deshalb Mandatare aller politischen Couleurs. Noch aber sieht es nicht danach aus, als würde sich der innere Widerspruch – vielseitig, mächtig und transparent, aber nur von einer Minderheit der Bevölkerung anerkannt – demnächst auflösen.