Der EU-Experte Janis Emmanouilidis vom European Policy-Centre warnt im Gespräch mit der „Presse“ vor zu viel Muskelspiel der EU-Abgeordneten.
Die Presse: Das Europaparlament ist ein junges Parlament. Hat es sich seit der ersten Direktwahl 1979 zu einem ernst zu nehmenden Machtfaktor entwickelt?
Janis Emmanouilidis: Es hat sich massiv verändert. Bei jeder Vertragsreform war das Europäische Parlament ein Gewinner. Es hat zunehmend an Einfluss gewonnen. Und vor allem im Kontext mit dem Lissabon-Vertrag hat es Mitentscheidungsrechte erhalten, die weitaus größer sind als bei den früheren Verträgen. Es spielt heute eine weit größere Rolle als in den Jahrzehnten davor.
Ist es heute mit nationalen Parlament in Europa vergleichbar?
Solche Vergleiche sollte man grundsätzlich nicht anstellen. Das System der Europäischen Union ist grundsätzlich anders ausgeprägt als die nationalen Systeme. Nationale Parlamente, die ihre nationalen Regierungen kontrollieren, funktionieren völlig anders als das Europaparlament, das keine europäische Regierung vor oder neben sich hat. Aber da das EU-Parlament bei der Gesetzgebung mittlerweile mitentscheiden darf, sind seine Rechte für sich mit jenen nationaler Parlamente vergleichbar.
Ist das Europaparlament ein ausreichendes Korrektiv für die Arbeit von EU-Rat und EU-Kommission?
Es ist ein maßgeblicher Faktor geworden. Obwohl es aber durch den Lissabonvertrag rechtlich gesehen an Bedeutung gewonnen hat, wurde es in der politischen Realität teilweise marginalisiert. Das hängt zu einem großen Maße mit der Eurokrise in den letzten Jahren zusammen. Das war der Moment der Exekutive. Es waren die Regierungen, die Staats- und Regierungschefs, die das Zepter in die Hand genommen haben. Sie haben an Wochenenden, bevor die Märkte eröffneten, gravierende Entscheidungen getroffen. Dabei wurde das Europäische Parlament das eine oder andere Mal zur Seite gedrängt. Es gab intergouvernmentale Vereinbarungen, die die Regierungen unter sich getroffen haben. Hier hat das Europäische Parlament einige Blessuren hinnehmen müssen.
Ist dadurch nachhaltiger Schaden in der Balance der EU-Institutionen entstanden?
Diese Frage kann man noch nicht beantworten. Wir sind in einer Phase, in der sich eine neue Normalität entwickelt. Wie die aussehen wird, steht noch nicht fest. Wie am Ende das Europäische Parlament, die Europäische Kommission dastehen wird, da gibt es noch viele Fragezeichen. Ich würde vor schnellen Schlussfolgerungen warnen, dass sich die EU zu einer wesentlich intergouvernmentalen Organisation entwickelt hat.
Das Parlament könnte das Match also noch gewinnen?
Das kann noch lange dauern, bis wir hier klar sehen. Was man aber sieht, ist etwas Problematisches: Es gibt in den Mitgliedstaaten kritische Stimmen zur Rolle des Europäischen Parlaments. Es wird gefragt, ob es ausreichend Legitimität genießt, welche Rolle die nationalen Parlamente in diesem Gesamtgefüge der EU spielen. Das Europäische Parlament ist also unter Druck geraten.
Wo sehen Sie die Defizite des Parlaments?
Wie jedes Parlament im Werden versucht auch das Europaparlament mit seinen Muskeln zu spielen, die Möglichkeiten, die es hat, auszunutzen. Es läuft dabei aber Gefahr, zwar die eine oder andere Schlacht zu gewinnen, den Krieg mit den anderen Institutionen aber zu verlieren. Wenn hier der Eindruck entsteht, es mischt sich zu viel ein, kann ihm das letztlich auch Einfluss kosten. Hier hat das Parlament seine Balance noch nicht gefunden.