Die Sternstunden des Parlaments

Von ACTA bis Saatgut. Mit dem Lissabon-Vertrag ist der Einfluss der Europaabgeordneten deutlich gewachsen. Und die EU-Parlamentarier lassen immer öfter ihre politischen Muskeln spielen.

Brüssel. Wie einflussreich ist das Europaparlament? Noch vor einigen Jahren wurde diese Frage in Brüssel mit einem süffisanten Lächeln quittiert – kein Wunder angesichts der Tatsache, dass das hohe Haus der Europäischen Union lange Zeit nicht die Funktion einer Legislative erfüllte, sondern den nationalen Regierungen als Verschubbahnhof für innenpolitische Zweitligisten diente, die für ihre Parteitreue mit einem gut dotierten, alles in allem harmlosen Posten belohnt wurden. Gemäß EU-Recht fällt es nämlich der EU-Kommission als Hüterin der europäischen Verträge zu, Gesetzesvorschläge zu machen – diese eigentlich naheliegendste Kernkompetenz einer Volksvertretung bleibt dem Parlament der EU verwehrt.
Ein politischer Friedhof der Kuscheltiere ist das Europaparlament deswegen noch lange nicht – ganz im Gegenteil. Die 766 Mandatare (künftig 751) erheben nämlich seit einiger Zeit immer lauter ihre Stimme, um auf die Gesetzgebung der Union Einfluss zu nehmen.
Der Lissabon-Vertrag änderte zwar nichts an dem Prinzip, wonach die Kommission grosso modo Gesetze initiiert, doch er gab dem Parlament mehr Mitspracherecht im Rahmen des sogenannten ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens. Vereinfacht ausgedrückt können Abgeordnete seit Lissabon vorgelegte Gesetzesentwürfe modifizieren bzw. zurück an den Absender (also die Kommission) schicken. In vielen Bereichen ist das Parlament also gleichberechtigt mit dem Rat der EU-Mitglieder. Und von diesem Recht nehmen die Parlamentarier immer öfter Gebrauch.

1 Abschaffung von Roaming und Neutralität im Netz

Das jüngste Beispiel konnte am 3. April beobachtet werden, als im Plenum über ein Bündel von Gesetzesvorschlägen zur Liberalisierung des Telekommunikationsmarktes abgestimmt wurde. Über das Hauptelement des Vorschlags von EU-Kommissarin Neelie Kroes – die Abschaffung von Roaminggebühren im EU-Ausland bis 2015 – gab es weitgehende Einigung, umstritten war allerdings ein anderer Passus, der im Gesetzestext begraben war: Demnach sollten die Anbieter von Internet-Zugängen die Erlaubnis bekommen,  bestimmte Inhalte und Services zu drosseln – und zwar in Fällen, „wo es notwendig ist, vernünftige Maßnahmen für Traffic-Management anzuwenden“.
Hinter dieser technischen Formulierung verbarg sich eine Aufweichung des bis dato geltenden Prinzips der Netzneutralität, dem zufolge alle Daten im World Wide Web gleich behandelt werden. Kritiker befürchteten, dass Konzerne wie Facebook oder Google Telekomfirmen dafür bezahlen könnten, Angebote der Konkurrenz zu verlangsamen, Befürworter wiederum wollten den Unternehmen die Möglichkeit eröffnen, Premium-Dienste für zahlungskräftige Kunden anzubieten. Am Ende setzten sich die Befürworter der Netzneutralität im EU-Parlament (allen voran die europäischen Sozialdemokraten und die Grünen) durch – die Brüsseler Behörde muss sich jetzt also etwas anderes einfallen lassen.

2 Gegen ACTA und die Überwachung von Internetkunden

Dass den Europaabgeordneten die digitale Agenda der Union ein besonders wichtiges Anliegen ist, dürfte mit einem zwei Jahre zurückliegenden Erweckungserlebnis zusammenhängen: dem Kampf um ACTA. Das international fix und fertig verhandelte „Anti Counterfeiting Trade Agreement“ wurde im Sommer 2012 von einer breiten Mehrheit der Abgeordneten abgelehnt. Der Zweck von ACTA war es, konzertiert gegen Verletzungen des Urheberrechts und der Piraterie im Internet vorzugehen. Die Gegner des Abkommens brachten jedoch das Argument ins Spiel, wonach Internet-Provider ihre Kunden überwachen müssten, um eventuelle Verstöße gegen das Urheberrecht aufdecken zu können. Während der Rat der EU-Mitglieder sowie die EU-Kommission ACTA befürworteten, stellten sich die Europaabgeordneten auf die Seite der Online-Community.
Dass die Parlamentarier das Thema Internet für sich entdeckt haben, liegt wohl nicht zuletzt daran, dass sich mit diesem Thema die Jungwähler gut mobilisieren lassen. Für die Abgeordneten, die sich in wenigen Wochen einem Votum stellen müssen und die ansonsten oft darunter leiden, im Schatten ihrer nationalen Kollegen zu stehen, bot das Thema eine Möglichkeit, ihr Profil zu schärfen.

3 Gegen die Aufweichung der
Privatsphäre durch SWIFT


Apropos Profil: Zwar ist das Europaparlament kein Hort des dumpfen Antiamerikanismus, doch ihre Kritik an gewissen Aspekten der transatlantischen Beziehungen haben die Abgeordneten immer wieder artikuliert – und seit bekannt wurde, dass der US-Geheimdienst NSA in großem Stil europäische Daten und Telefongespräche durchforstet, werden diese kritischen Stimmen immer lauter. Doch die USA waren bereits vor der Causa NSA ein Reibebaum. Im Sommer 2010 bedurfte es zweier Abstimmungen, um das Swift-Abkommen mit den Vereinigten Staaten durchs Parlament zu bringen. Die Vereinbarung regelt den Zugang zu europäischen Bankdaten für US-Behörden – für Washington ein wichtiger Baustein seines Feldzugs gegen den internationalen Terrorismus, für das EU-Parlament eine Aufweichung der Privatsphäre. Auch das sogenannte Safe Harbour-Abkommen, das den US-Internetriesen erlaubt, europäische Kundendaten in den USA zu verarbeiten, ist alles andere als beliebt – doch in diesen Bereichen konnten sich die Abgeordneten (zumindest bis dato) nicht gegen den Rat durchsetzen.

4 Für ausreichende Budgetmittel
und eine starke Bankenunion


Wobei ein Sieg auf ganzer Linie eher die Ausnahme als die Regel ist  – im Normalfall verhandeln Rat und Parlament nämlich so lange, bis am Ende ein für beide Institutionen tragbarer Kompromiss herausschaut. Genau dieses Prozedere konnte im Laufe des vergangenen Jahres beobachtet werden, als es darum ging, das EU-Budget für die nächste Finanzierungsperiode zu fixieren. Die EU-Mitglieder einigten sich auf den Finanzrahmen 2014-2020 bei ihrem Gipfeltreffen im Februar 2013, die endgültige Zustimmung des EU-Parlaments erfolgte erst im November – dazwischen wurde über diverse Posten heftig gestritten, denn die EU-Mitglieder wollten möglichst wenig Geld in die Hand nehmen, während die Abgeordneten das genaue Gegenteil forderten – und obendrein eine eigene Einnahmequelle für die Union. Bei der letzten Forderung bissen die Parlamentarier auf Granit, bei anderen Punkten gab es seitens des Rats immerhin etwas Entgegenkommen. Und auch bei der Bankenunion, die ebenfalls 2013 verhandelt wurde, kam man dem Parlament entgegen: So können die Europaabgeordneten künftig den Kandidaten für den Posten des Chefs der bei der EZB angesiedelten EU-Bankaufsicht ablehnen, wenn er ihnen nicht passt.

5 Gegen einheitliches, industriell
hergestelltes Saatgut

Doch das Parlament kann sich auch gegenüber der EU-Kommission behaupten: Das jüngste Beispiel dafür war die von Gesundheitskommissar Tonio Borg vorgeschlagene Saatgutverordnung, die Anfang März im Plenum versenkt wurde, und zwar von einer überwältigenden Mehrheit von 650 Abgeordneten, die dafür von Konsumentenschützern und Umweltgruppen bejubelt wurden. Nach Ansicht des Parlaments orientierte sich der Vorschlag einzig an den Wünschen und Bedürfnissen der Agrarkonzerne, während Kleinbetriebe um ihre Existenz bangen müssten – so war etwa vorgesehen, den Landwirten den nachbarschaftlichen Austausch von Saatgut zu verbieten. Auch die Züchter von alten Obst- und Gemüsesorten hätten Probleme bekommen, denn sie hätten ihr traditionelles Saatgut aufwändig registrieren müssen. Mit der Entscheidung der Parlamentarier, das Gesetzgebungsverfahren formal abzuschließen, wurde die Brüsseler Kommission zurück an den Start geschickt: Sie muss nun einen völlig neuen Entwurf vorlegen.

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