Totale Ablehnung des Türkei-Beitritts

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In Österreich werden positive Aspekte des Beitritts kaum erörtert, zeigt eine neue Studie. „Die Presse“ stellt sechs Pro-und Kontra-Argumente zur Diskussion.

Wien/Istanbul. Eine neue Studie wagt einen Blick ins Jahr 2015. Das Szenario: Die Türkei hat die Beitrittskriterien erfüllt. Wie schon 2008 angekündigt, findet in Österreich, als einzigem Land in der EU, eine Volksabstimmung über den Beitritt statt. Boulevardzeitungen machen Stimmung für ein Nein. Die FPÖ erregt wieder einmal Aufsehen mit islamfeindlichen Äußerungen. 95 Prozent stimmen mit „Nein“. Nach zehn Jahren Beitrittsverhandlungen schlittert die EU in eine neue politische Krise. Wien ist voll mit tausenden Korrespondenten, darunter 900 aus islamischen Ländern. CNN und al-Jazeera befragen Bergbauern in Tirol und Taxifahrer in Klagenfurt: Was habt ihr gegen die Türken?

Ein unrealistisches Szenario? Nicht für die „European Stability Initiative“ (ESI), einen angesehenen Think Tank mit Stützpunkten in Berlin, Brüssel und Istanbul. In der neuen Studie „Der unbekannte Türke und eine künftige Volksabstimmung – Anatomie einer österreichischen Debatte“ beschäftigt sich das angesehene Institut mit genau diesem Szenario – und seinen möglichen Gründen.

Es geht um Kultur, nicht Religion

Die unterschiedliche Religion steht nicht im Vordergrund, zeigen die von der Studie zitierten EU-Umfragewerte. Für 60 Prozent ist diese Frage für einen EU-Beitritt irrelevant. Nur 28 Prozent sehen Europa als „christliche Festung“. Sehr wohl geht es aber um Kultur und Identität: Für 74 Prozent ist die Türkei einfach „kein europäisches Land“. Ebenso viele halten die kulturellen Unterschiede für zu hoch. Im EU-Schnitt sind es nur 54 Prozent. Durch diesen „Generalverdacht“ geraten mögliche positive Aspekte eines Beitritts, die in anderen EU-Ländern stark diskutiert werden, aus dem Blickfeld der Debatte: vor allem wirtschaftliche Vorteile und der Sicherheitsaspekt – die Türkei als „soft power“ im Nahen Osten.

Den Hauptgrund für die stark empfundene Fremdheit sieht Studienautor Gerald Knaus in fehlender Information über die moderne Türkei an den Schulen: „Österreichs Schüler lernen nichts über die Türkische Republik. In den Geschichtsbüchern kommt das Land nur im Zusammenhang mit den Türkenkriegen vor.

Die Fakten: Nur fünf Prozent der Österreicher sind laut Eurobarometer für einen EU-Beitritt der Türkei. Mit stark sinkender Tendenz, denn im Jahr 2002 waren es noch 32 Prozent. Und die Befragten sind sich sicher: Die Rate der Unentschlossenen ist mit nur sieben Prozent ungewöhnlich niedrig. Zum Vergleich: In Schweden gibt es 46 Prozent Befürworter, im bekannt erweiterungsskeptischen Frankreich immer noch 22 Prozent. Selbst in der Republik Zypern, dem alten Erzfeind der Türkei, können sich 19 Prozent der Befragten für einen Türkei-Beitritt begeistern.

In Österreich hat auch die politische Debatte die öffentliche Meinung stark beeinflusst. Das zeigt ein Blick auf ältere Ergebnisse. Bis zum Jahr 2002 machten die Österreicher in Umfragen wenig Unterschied, ob es um einen Beitritt von Bulgarien, Kroatien oder eben die Türkei ging.

„Politiker verstecken sich“

Der Wendepunkt, so die neue Studie, war 2004: In diesem Jahr hat die SPÖ die Türkei zum Thema gemacht. Als Oppositionspartei warf sie der VP/FP-Regierung vor, zu wenig gegen den Start der Beitrittsverhandlungen zu unternehmen. Schnell bildete sich, über Parteigrenzen hinweg, eine breite Front für eine Volksabstimmung im Falle eines positiven Ergebnisses der Verhandlungen. Im Dezember 2004 versprach Bundeskanzler Schüssel ein Referendum; Kanzler Gusenbauer hat diese Linie übernommen. Für alle anderen Beitrittskandidaten am Balkan, von Kroatien bis Mazedonien, gilt das nicht. Künftige Beitritte dieser Länder werden vom offiziellen Österreich befürwortet.

Für Studienautor Knaus ist das Referendum ein Horrorszenario: „Die Politiker verstecken sich hinter einer Volksabstimmung. Niemand sagt, dass das eine schlechte Idee ist. Eine Contra-Kampagne mit islamophoben Untertönen wäre ein diplomatisches Desaster.“

Tatsächlich könnte Österreich mit einem Referendum 2015 allein dastehen. Zwar hat Frankreich ähnliche Forderungen in der Verfassung, aber sie gelten für jeden Beitrittskandidaten. Und das nicht mehr lange, vermutet Knaus: „Die Franzosen überlegen gerade eine Verfassungsänderung.“

In Österreich hingegen sind die Reihen dicht geschlossen: Seit 2005 habe sich kein Regierungsmitglied mehr in Ankara oder Istanbul blicken lassen. Und die einzige Persönlichkeit, die in Österreich immer noch öffentlich für einen Beitritt eintritt, dürfte der türkische Botschafter in Wien sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.01.2008)

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