Manche Proeuropäer wollen der EU eine Seele einhauchen, die sie nicht hat. Das Modell der EU muss zuerst sachlich überzeugen, um gemocht zu werden.
Ihr müsst euch mögen, ihr seid Geschwister“, sagte die Mutter. Aber die ältere Schwester und der jüngere Bruder stritten, was das Zeug hielt, rauften, verletzten sich, stritten wieder und wieder, bis sie irgendwann erwachsen waren. Dann lachten sie irgendwann über die dumme Eifersucht in Kindheitstagen. Sie erkannten, wie gut sie es eigentlich in ihrer eigenen Familie gehabt hatten – sie lernten die gemeinsame Vergangenheit schätzen und sich gegenseitig zu respektieren. Irgendwann mochten sie sich.
Diese Geschichte gibt es in Varianten in fast jeder Familie. Die von den Eltern oktroyierte Harmonie funktioniert eben nicht. Erst die Erfahrung und das gemeinsame Durchleben von Krisen kann emotionale Bindungen schaffen.
„Ihr müsst euch lieben!“ Das funktioniert in keiner Beziehung. Das funktioniert auch nicht in der Europäischen Union. Wenn derzeit Proeuropäer die sperrige, technokratische EU zum Herzensanliegen erklären, ihr eine Seele einhauchen wollen, kommen sie zu spät. Oder vielleicht zu früh. Die sinngebende Nachkriegszeit gerät in Vergessenheit, heute dominiert in diesem Projekt spröde Sachlichkeit: ESM, Fiskalpakt, TTIP – das funktioniert schon rein sprachlich nicht mit Emotionen.
Miguel Herz-Kestranek schrieb kürzlich in dieser Zeitung: „Ohne beseelte Vision, ohne Leidenschaft, ohne Verstand und Herz werden 500 Millionen Menschen nicht nachhaltig zu gewinnen sein, ist keine Krise zu meistern.“ Natürlich hat er recht. Aber es braucht dafür gegenseitige Wertschätzung und eine überzeugende gemeinsame Politik. Vorschläge dazu haben wir in dieser Schwerpunktausgabe der „Presse“ mehrfach angeführt.
Die EU löst heute kein Wohlempfinden aus. Sie ist eine einigermaßen funktionierende Wirtschaftsgemeinschaft, vor allem aber ein bürokratisches Konstrukt. Als gemeinsame politische Basis hat sie zuletzt eher ihre Schwächen als ihre Stärken offenbart. Sie ist für viele Bürger kein strahlendes Zuhause, sondern eher eine in die Jahre geratene Unterkunft mit schlecht sanierten Wasserschäden und zu kleinen Zimmern. Die Wände zu den Nachbarn scheinen vielen zu dünn, nur jene zu den Entscheidungsträgern dick und unüberwindbar. Soll die Europäische Union positiv wahrgenommen werden, muss die Intransparenz ihrer Entscheidungsfindung beendet werden.
Für den Aufbau von Vertrauen sind zwei Voraussetzungen notwendig: nämlich eine Politik, die nicht mehr hinter verschlossenen Türen für gewichtige Interessengruppen wie Saatkonzerne oder Banken handelt – sondern eine Politik, die sich von Einschränkungen der individuellen Freiheit und somit von zu vielen Regeln und Regulierungen verabschiedet. Die sich stattdessen um die großen Rahmenbedingungen bemüht, eine Basis für den sozialen Frieden schafft und als glaubhafter Dienstleister der Bürger agiert. Eine Politik ist gemeint, die nicht populär oder gar populistisch, sondern – Beispiel Haushaltspolitik – verantwortungsbewusst handelt.
Die zweite Voraussetzung ist eine, die von der Politik unterstützt, aber nicht erzwungen werden kann: Es ist der innere Zusammenhalt der Gemeinschaft. Wer heute nach Prag, Berlin, Paris oder Lissabon reist, hat gute Chancen, den gemeinsamen Kulturraum zu erfahren. Europa, das ist mehr als die spröde EU, das ist eine Familiengeschichte mit Jubel und Desaster. Der Streit, die Kriege und Krisen gehören ebenso wie die überwundene Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland dazu. Heute zählen zu dieser Geschichte auch geöffnete Grenzen, Reisefreiheit, die gemeinsame Währung von 18 Ländern. Niemand kann gedrängt werden, das zu lieben. Aber es kann allen die Möglichkeit geboten werden, Erfahrung damit zu sammeln, den Mehrwert selbst zu beurteilen.
Es kann kein Zwang sein, sondern nur eine Option, das Modell der nationalen Abgrenzung in Europa zu überwinden. Die aktuelle Eifersucht und gegenseitigen Schuldzuweisungen für die Finanz- und Schuldenkrise zwischen dem Norden und Süden mögen für manche das Projekt infrage stellen. Erfüllen sich die Hoffnungen auf ein Ende der Krise, wird dies aber nur noch eine Episode der gemeinsamen Familiengeschichte sein.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2014)