Wenn Bürger rotsehen: Der große Ärger mit Europa

Nur selten wurden die Normalbürger zum Projekt europäische Einigung befragt. Davon profitieren jetzt die Populisten.

Laut aktuellen Meinungsumfragen werden die großen Gewinner bei den Wahlen zum Europäischen Parlament am 25. Mai populistische Rechtsparteien sein, denen die Abneigung gegen die EU gemein ist – insbesondere die Nationale Front in Frankreich, die Freiheitspartei in den Niederlanden und die United Kingdom Independence Party (UKIP) in Großbritannien.

Auch wenn die euroskeptische Rechte vielleicht nicht die Mehrheit der Sitze erringen dürfte, ist ihre kollektive Stärke ein harter Schlag für die Sache der europäischen Einheit. Warum stößt ein Projekt, das im Gefolge des Zweiten Weltkriegs mit so großen Hoffnungen begann, auf so viel Widerstand?

Der Erfolg des Rechtspopulismus in Europa rührt nicht nur vom Unbehagen mit der EU her, sondern hängt auch mit einer breiten Ablehnung der liberalen/linken Eliten zusammen. Ihnen wird die Schuld für Probleme zugeschoben: für die von vielen als Bedrohung empfundene Immigration, für die kränkelnden Volkswirtschaften, für den islamischen Extremismus und natürlich für die angebliche Dominanz der „Eurokratie“ in Brüssel. Wie die Tea-Party-Wähler in den USA behaupten manche Europäer, dass man ihnen ihre Länder weggenommen habe.

Attraktive Populisten

Die Menschen fühlen sich politisch hilflos in einer Welt, die zunehmend von Großkonzernen und gesichtslosen internationalen Bürokratien beherrscht zu werden scheint. Die Attraktivität des Populismus beruht auf der Behauptung, dass die Dinge mit Sicherheit besser würden, wenn wir nur endlich wieder Herr im eigenen Haus sein könnten. In vielen Ländern ist nicht nur das Vertrauen in die europäischen Institutionen zusammengebrochen, sondern der grundlegende liberale/linke Konsens, der aus der Katastrophe zweier Weltkriege hervorging. Nach 1945 teilten Christ- und Sozialdemokraten das Ideal eines friedlichen, geeinten Europas, in dem kontinentale Solidarität – ein Bekenntnis zu wirtschaftlicher Gleichheit, Wohlfahrtsstaat und Multikulturalismus – den Nationalismus allmählich ersetzen würde.

Dieses ideologische Gebäude wurde in den 1990er-Jahren ernsthaft beschädigt: Der Kollaps des Sowjetreichs diskreditierte nicht nur den Sozialismus, sondern jede Form des kollektiven Idealismus. Der Neoliberalismus begann das entstandene Vakuum zu füllen.

Zugleich ließen sich immer mehr Einwanderer (häufig aus muslimischen Ländern) in europäischen Städten nieder. Dies führte zu sozialen Spannungen, auf die die etablierten Parteien keine angemessene Antwort fanden.

In einer Atmosphäre wirtschaftlichen Niedergangs und des sporadischen Terrorismus überzeugten Warnungen vor Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit nicht mehr. Dies ist der Grund dafür, dass populistische Demagogen mit ihren Versprechungen, die westliche Zivilisation vor dem Islam zu schützen, „Brüssel“ zu bekämpfen und ihre Länder von den linksgerichteten Parteien „zurückzuerobern“, so erfolgreich sind.

Doch diese Reaktion dürfte kaum dazu führen, dass es den europäischen Ländern bald besser geht. Um sich im Wettbewerb mit aufstrebenden Mächten auf anderen Kontinenten zu behaupten, wird es zunehmend einer gemeinsamen europäischen Außen- und Verteidigungspolitik bedürfen. Und eine gemeinsame Währung – egal, wie fehlerhaft konzipiert – erfordert gemeinsame Finanzinstitutionen, die sich nicht werden einrichten lassen, sofern die Europäer ihr Gefühl der Solidarität nicht zurückgewinnen.

Die Frage ist, wie. Womit etwa werden sich die relativ wohlhabenden Nord- und Mitteleuropäer überzeugen lassen, dass ihre Steuergelder dazu verwendet werden sollten, in Krisenzeiten den Südeuropäern zu helfen?

Katholiken und Paneuropäer

Die meisten Gründer paneuropäischer Institutionen – wie Robert Schuman, Konrad Adenauer und Jean Monnet – waren Katholiken. Der Paneuropäismus fällt Katholiken leichter als Protestanten, weil sie traditionell ein Gefühl der Zugehörigkeit zur römischen Kirche haben, das sich häufig mit der europäischen Idee überschnitten hat.

Diejenigen, die 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gründeten, waren in gewissem Sinne die Erben des Heiligen Römischen Reiches. Dies jedoch kann kein Modell für ein Europa sein, dessen Bürger Mitglieder nahezu aller Glaubensrichtungen umfassen sowie viele, die sich keiner religiösen Gruppe zurechnen. Die Art von ethnischer Solidarität, die der russische Präsident Wladimir Putin im ehemaligen Sowjetreich zu schüren sucht, ist mit Sicherheit ebenfalls keine Antwort für Europa.

Vergifteter Nationalismus

Der ethnische Nationalismus entwickelte sich im 20. Jahrhundert zur giftigen politischen Strategie, die zu Völkermord und ethnischen Säuberungen führte – ein Erbe, das nahelegt, wie gefährlich Putins Unterfangen ist. So oder so waren die Europäer nie ethnisch geeint und werden es nie sein.

Einige führende europäische Politiker wie der einstige belgische Ministerpräsident Guy Verhofstadt träumen von einer europäischen Kulturgemeinschaft. Er verweist auf seine Liebe zu französischem Wein, der deutschen Oper und der englischen und italienischen Literatur. Gewiss ein attraktiver Traum, aber das alles wird kaum ausreichen, um die Europäer zu einigen.

Das Einzige, was bleibt, wäre daher eine Art Gesellschaftsvertrag. Man sollte die europäischen Bürger nicht dazu anhalten, ein Maß an nationaler Souveränität aus religiösen, kulturellen oder ethnischen Gründen aufzugeben. Auch sollte man sie nicht auffordern, aus Liebe zu Europa einen Teil ihrer Steuern dafür zu verwenden, anderen Ländern zu helfen. Man sollte sie überzeugen, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, diese Dinge zu tun.

Den Menschen müsste von ihren nationalen Führungen vermittelt werden, dass sich bestimmte Probleme nur mittels supranationaler Institutionen lösen lassen. Nur, werden sie sich überzeugen lassen? Diese Frage geht zurück auf die alten Debatten der Aufklärung: John Lockes Gesellschaftsvertrag, der auf aufgeklärtem Eigeninteresse beruht; dagegen stehend David Humes Sicht, dass der wesentliche Klebstoff, der eine Gesellschaft zusammenhält, Tradition und kulturelle Vorurteile sind.

Meine Sympathien liegen auf Seiten Lockes. Doch die Geschichte zeigt, dass Humes Sicht möglicherweise mehr Zugkraft hat. Allerdings hat die Geschichte auch gezeigt, dass Traditionen häufig erfunden werden, um den Interessen der herrschenden Klassen zu dienen. Auch die europäische Einigung war immer ein Unterfangen, das von Mitgliedern der Elite vorangetrieben wurde. Die Normalbürger wurden nur selten gefragt. Davon profitieren jetzt die Populisten.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Zum Autor

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Ian Buruma (*28.12.1951 in Den Haag) studierte chinesische Literatur in Leiden und japanischen Film in Tokio. 2003 wurde er Professor für Demokratie und Menschenrechte am Bard College in New York; 2008 mit dem Erasmus-Preis ausgezeichnet. Zahlreiche Publikationen. Zuletzt ist in diesem Jahr sein Buch erschienen: „Year Zero: A History of 1945“. [Internet]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.05.2014)

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