EU: Wer die Schlacht um Juncker verloren hat

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Das Hickhack um den EU-Chefposten ist eine Facette des Kampfes um das Sagen in der Union zwischen Rat und Europaparlament – und die Regierungschefs sind dabei in der Defensive.

Brüssel. Als die Verfassungsrichter in Karlsruhe vor genau vier Monaten ihr Urteil über die deutsche Sperrklausel bei der bevorstehenden Europawahl fällten, war die Welt der europäischen Staats- und Regierungschefs noch in Ordnung. „Unter den gegenwärtigen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen“ verstoße die bis dahin geltende Schwelle von drei Prozent der Stimmen gegen das Prinzip der politischen Chancengleichheit, befand Deutschlands oberstes Gericht am 26.Februar – und betonte bei der Gelegenheit ausdrücklich, dass dieses Argument nicht für die Bundestagswahl gelte. Denn anders als beim Bundestag handle es sich bei dem Europaparlament nicht um ein echtes Parlament. Der Karlsruher Lesart zufolge sind stabile Mehrheiten in Brüssel und Straßburg nicht nötig, da die Europaabgeordneten nicht für „die Wahl einer handlungsfähigen Regierung“ zuständig seien.

Am Vorabend des EU-Gipfels, bei dem der Kandidat für den Posten des Präsidenten der EU-Kommission gekürt werden soll, wirkt diese Einschätzung wie aus einer anderen Epoche. Denn die Staats- und Regierungschefs der Union werden am heutigen Freitag aller Voraussicht nach jenen Mann nominieren, der als Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei (EVP) bei der in vielen EU-Hauptstädten belächelten Europawahl angetreten war: den ehemaligen luxemburgischen Premier Jean-Claude Juncker. Dessen nicht genug: Erstmals in der Geschichte der EU dürfte der Beschluss bei einer Kampfabstimmung fallen – denn Großbritannien will der Nominierung auf keinen Fall zustimmen. Es sei „kein Drama“, wenn das Votum nicht einstimmig gefällt werde, beschwichtigte die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, am Rande des gestrigen EVP-Treffens im belgischen Kortrijk. Hauptsache, man könne „bei inhaltlichen Fragen ein hohes Maß an Gemeinsamkeit“ erreichen.

Doch um ein Drama handelt es sich allemal, denn das Hickhack um Juncker ist nur eine Facette des Kampfes um das Sagen in der Europäischen Union, den Rat und Europaparlament momentan führen – und bei dem die Staats- und Regierungschefs eindeutig in die Defensive geraten sind.

„EU-Kommission ist eine Regierung“

Abseits aller fragwürdigen Vorwürfe Richtung Juncker hat die britische Kritik einen wahren Kern: Seine Ernennung würde das institutionelle Gleichgewicht der Union durcheinanderbringen – mit noch unabsehbaren Folgen, denn im Zuge der Causa Juncker wird das Europaparlament auf Kosten des Rats aufgewertet und die Rolle und das Selbstverständnis der EU-Kommission modifiziert.

Die Behörde wurde in den EU-Verträgen als ein bürokratisch-politisches Zwitterwesen konzipiert: einerseits für die Verwaltung der Union und die Einhaltung ihrer Spielregeln zuständig, andererseits als einzige EU-Institution befugt, neue Gesetze auszuarbeiten, über die dann Rat und Parlament befinden müssen. Das Parlament will das nun ändern. Aufgrund der Tatsache, dass Juncker als Sieger der Europawahl ins Hauptquartier der Kommission einziehen werde, sei er dem Parlament in einem besonderen Maß verpflichtet, sagte der EVP-Fraktionsvorsitzende Manfred Weber am Mittwoch. Der CSU-Politiker hat auch eine etwas andere Vorstellung vom Raison d'être der Brüsseler Behörde: Die EU-Kommission sei die Regierung Europas und keine Bürokratie. Soll heißen: Die Hauptverantwortung des Kommissionspräsidenten ist gegenüber dem Europaparlament, das ihm das Vertrauen ausgesprochen hat. Die Hauptstädte hätten demnach nichts zu melden – und die EU wäre einen Schritt weiter Richtung Bundesstaat.

Das ist insofern problematisch, als die EU-Verträge die Kommission zwischen Rat und Parlament positionieren, denn die Staats- und Regierungschefs sind nicht nur mit der Nominierung des Kommissionschefs betraut, sondern geben der Kommission auch die Fahrtrichtung vor. Mit der Forcierung europäischer Spitzenkandidaten durch EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz wurde der Rat elegant ausmanövriert. Die meisten Regierungen stimmten nolens volens dem Prinzip zu, dass der Wahlsieger den Anspruch auf das Amt des Kommissionspräsidenten hat – täten sie das nicht, wären sie als Feinde der europäischen Demokratie gebrandmarkt worden. Vor allem in Deutschland war der Aufschrei groß, als Merkel nach der Wahl von ihrem Kandidaten abzurücken schien, um die Briten zu beschwichtigen – die Kanzlerin musste eiligst zurückrudern und Juncker öffentlich den Rücken stärken.

De facto hat der Rat noch eine Möglichkeit zu verhindern, dass ihm die EU-Kommission entgleitet: Er müsste die Brüsseler Behörde durch einen möglichst detaillierten Fahrplan für die kommenden fünf Jahre an sich binden. Das Problem ist nur, dass sich die Staats- und Regierungschefs dabei selbst im Weg stehen, denn die hoch verschuldeten Italiener und Franzosen haben andere Vorstellungen als das frugale Deutschland – sie wünschen sich unter dem Stichwort „Flexibilität“ mehr Spielraum bei öffentlichen Ausgaben, während Berlin auf die Einhaltung der budgetären Spielregeln pocht. Kein Wunder also, dass das vierseitige Strategiepapier von Ratspräsident Herman Van Rompuy, das im Vorfeld des Gipfels die Runden machte, viele Allgemeinplätze und wenig Konkretes enthielt. Während im Rat über Schulden gestritten wird, agiert das Parlament nach dem erprobten Prinzip „Getrennt marschieren, vereint schlagen“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.06.2014)

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