Aufwind für Europas Einzelgänger

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In rund 50 Tagen stimmen die Schotten über die Abspaltung von Großbritannien ab. Die EU wächst zwar, und sie wächst enger zusammen, doch Nationalstaaten droht der Zerfall.

Stimmen Sie zu, dass Schottland ein unabhängiger Staat sein soll?“ Wenn in rund 50 Tagen 4,2 Millionen Schotten aufgerufen sind, diese knappe Frage zu beantworten, entscheiden sie nicht nur über ihre Zukunft – sondern dann entscheiden 8,3Prozent der britischen Bevölkerung auch über die Zukunft und das Schicksal Großbritanniens. Ein Ja würde ein Ende der seit 1707 bestehenden Union mit England bedeuten, und Befürworter wie Gegner der Unabhängigkeit stimmen nur in einem überein: Es ist ein historischer Moment.

Und das nicht nur für die Insel. Separatistische Bewegungen in ganz Europa würden enormen Aufwind bekommen, allen voran die flämischen Nationalisten, die sich mental schon weit von Belgien wegbewegt haben, aber auch die Katalanen und Basken, die Spanien satthaben, oder die „Los von Rom“-Bewegungen Norditaliens.

Schottland trägt 8,1 Prozent zur britischen Bruttowertschöpfung bei, doch die Bedeutung des nördlichen Teils für den Gesamtstaat geht weit darüber hinaus. Schottland hat den gemeinsamen Staat überproportional geprägt, Glasgow nannte man einst „die zweite Stadt des Empire“, nach London.

Mit dem Abstieg des Großreichs setzte ein in Schottland besonders schmerzhafter Strukturwandel ein, auch staatliche Subventionen konnten den Niedergang der Schwerindustrie nicht verhindern. Im sozialen Elend keimte langsam der Gedanke der staatlichen Unabhängigkeit. Die Scottish National Party (SNP), heute die stärkste Partei im Land und Hauptträger der Unabhängigkeitsbewegung, reagierte auf die Entdeckung der Ölvorhaben in der Nordsee in den 1960er-Jahren mit dem Slogan „Es ist unser Öl.“

Im Gegensatz zu den feurigen Iren, die mit Gewalt gegen die Briten kämpften, näherten sich die Schotten der Unabhängigkeit bedächtig. Doch nun, fünf Jahrzehnte später, wollen sie es wissen – an der Wahlurne. Andere könnten sich daran ein Beispiel nehmen.

Flandern

„2030 wird es Belgien nicht mehr geben.“ Sagt einer, der selbst alles dafür tut, dass seine Prognose auch eintritt: Bart De Wever, Führer der flämisch-nationalistischen Partei NVA, die gerade erst im Mai die Parlamentswahl gewonnen hat. Seit zehn Jahren kämpft er als Parteichef für die Trennung Flanderns von der französischsprachigen Wallonie. De Wever hat dabei zuletzt die Langsamkeit entdeckt: Kein groß inszenierter Bruch – ein Szenario, das auch zahlreiche Flamen verschreckt hat –, sondern eine schleichende Aushöhlung des Staates, bis von diesem dann nichts mehr übrig wäre und seine Abschaffung nur mehr einem notariellen Akt gleichkäme, in Anerkennung der Realität. Das ist De Wevers neuer Plan, dem er den Namen „Konföderalismus“ gegeben hat.

Wie so oft geht es in dem Konflikt auch um das Geld: Das wohlhabende Flandern möchte nicht für die Wallonen zahlen. Das Verhältnis hat sich indes erst 20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg umgekehrt. Bis in die 1960er-Jahre war die Wallonie mit ihrer einst starken industriellen Basis reicher.

Katalonien

Der Termin steht schon – zumindest, wenn es nach dem Willen der nationalistischen Regierung in Barcelona geht: Am 9.November soll nach dem Vorbild Schottlands über die Unabhängigkeit abgestimmt werden. Dieses Referendum hätte zwar keinen Effekt, da es von Madrid abgelehnt wird und in dieser Form gegen die Verfassung verstieße, die Signalwirkung wäre freilich groß. Umfragen deuten darauf hin, dass eine Mehrheit der Katalanen dafür stimmen würde, dass ihre reiche Region, die etwa ein Fünftel des spanischen BIPs erwirtschaftet, künftig eigene Wege gehen soll.

Baskenland

Katalonien ist aber nicht der einzige spanische Zankapfel. Medial dominierte lange Zeit der Konflikt im Baskenland, da ein Teil der dortigen Separatisten – die Terrorgruppe ETA – den Weg der Gewalt einschlug. Dem Morden der ETA fielen rund 830 Menschen zum Opfer, bis die Gruppe im Oktober 2011 angeblich die Waffen niederlegte. Was den baskischen Separatismus zudem heraushebt: Er ist grenzüberschreitend, denn die nationalistische Bewegung beansprucht auch das französische Baskenland für einen künftigen Staat. Konkrete Pläne für ein Unabhängigkeitsreferendum wie in Katalonien gibt es im Baskenland derzeit nicht.

Norditalien

Es ist das alte Lied: Die reichen Regionen wollen nicht für die Armen zahlen. In Italien bedeutet dies Nord gegen Süd. Kernregion des italienischen Separatismus ist die Lombardei, wo in den 1980ern die Lega Lombarda von Umberto Bossi auf sich aufmerksam machte, die später in der Lega Nord aufging. Deren proklamiertes Ziel: ein unabhängiger Staat Padanien, der in der Maximalversion weite Teile Norditaliens umfasst hätte. Bei den Regionalwahlen 2010 erreichte die Lega in Venetien immerhin 35,2 Prozent.

Und sie ist auch auf den Referendumszug aufgesprungen. Im Windschatten einer aus Sicht der Organisatoren höchst erfolgreichen Online-Befragung im März in Veneto (89Prozent pro Unabhängigkeit) will die Lega nun in ihrem Stammland, der Lombardei, eine Abstimmung organisieren. Allerdings unter dem Signum der Verbindlichkeit: „Es wird ein offizielles Referendum sein“, sagt die Lega. In Rom sieht man das freilich anders.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2014)

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