Trotz eines Rückstands in den Umfragen gibt sich die schottische Vizeregierungschefin, Nicola Sturgeon, zuversichtlich, dass sich die Schotten am 18. September für die Abspaltung entscheiden werden. Sie glaubt an eine Aufbruchsstimmung, sogar bei jenen, die noch skeptisch sind.
Die Presse: Wie läuft Ihre Kampagne?
Nicola Sturgeon: Es geht sehr gut, tausende Menschen sind engagiert. Wir arbeiten wirklich an der Basis, und ich glaube, das wird am Ende beim Referendum eine Mehrheit für die Unabhängigkeit bringen. Aber natürlich bleibt noch viel zu tun.
Was sind die Hauptsorgen der Bürger in Bezug auf das Referendum?
Die Menschen stellen viele Fragen, das ist nicht verwunderlich. Sie wollen über ihre wirtschaftlichen Perspektiven hören, welche Währung wir verwenden werden, oder über die Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Immer stärker wendet sich aber das Blatt, und die Menschen konzentrieren sich weniger auf die Sorgen als auf die Chancen, die uns die Unabhängigkeit bietet.
Mit welchem Wort würden Sie die Stimmung im Land beschreiben?
Ich würde sagen, es herrscht eine Aufbruchsstimmung, und das gilt auch, wenn man mit Menschen spricht, die noch nicht im Lager der Befürworter einer Unabhängigkeit stehen: Auch sie haben das Gefühl eines Aufbruchs, und sie sehen die Möglichkeiten eines unabhängigen Schottlands und die Chance, dieses neue Land zu schaffen und zu gestalten.
Dennoch liegen Sie in den Umfragen zurück. Hat Ihre Kampagne den Schwung verloren?
Keineswegs, so fühlt es sich nicht an, wenn wir unterwegs sind und mit den Menschen im Land sprechen. Ich habe noch mit keinem Menschen geredet, der von einem Ja zur Unabhängigkeit zu einem Nein gewechselt wäre. Aber ich treffe viele, die von einem Nein ins Lager der Befürworter oder der Unentschlossenen gewechselt sind. Dennoch haben wir sicher noch einiges an Arbeit vor uns.
Nach allen Umfragen stehen Frauen der Unabhängigkeit kritischer gegenüber als Männer. Warum?
Frauen prüfen sorgfältig und wollen überzeugt werden. Es ist vielleicht eine Verallgemeinerung, aber sie wollen eher wissen, was Unabhängigkeit für ihre Familien und ihre Gemeinden bedeuten wird als wie viele Botschaften wir einrichten und welche Hymne wir singen werden.
Denken Sie, dass Ihre Kampagne alle Sorgen der Menschen, zum Beispiel die wirtschaftliche Unsicherheit, ausreichend offen anspricht?
Ich denke, ja. Was mich besonders beeindruckt, ist, wie gut informiert und interessiert die Bürger zu den Veranstaltungen kommen. Für viele stellt sich als entscheidende Frage: Haben wir das Vertrauen, dass die Menschen dieses Landes die bestgeeigneten Menschen sind, dieses Land zu regieren? Wenn die Menschen die Frage so sehen, dann werden sie sagen: Die Unabhängigkeit ist kein Zauberstab, aber sie ist eine Riesenchance, ergreifen wir sie!
Was wird beim Referendum im September den Ausschlag geben?
Das Vertrauen. Entscheidend wird sein, ob die Menschen das Vertrauen und die Zuversicht haben, dass wir die besten Leute haben, unser Land selbst zu regieren.
Wird denn das Ergebnis des Referendums die Frage der schottischen Unabhängigkeit endgültig klären?
Ich bin allein auf die Kampagne und eine Ja-Mehrheit konzentriert. Wenn es ein Ja ist, werden wir ein unabhängiges Land. Schottland hat alle Chancen.
ZUR PERSON
Nicola Sturgeon (*1970) ist seit Mai 2007 Erste Vizepremierministerin Schottlands. Die Politikerin der Schottischen Nationalpartei SNP ist eine vehemente Verfechterin einer Abspaltung von Großbritannien. Die Juristin sitzt seit 1999 im Parlament in Glasgow. [ The Scottish Government ]
("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2014)