Soziales Gefälle: Geschonte Alte, geschorene Junge

Madrid
Madrid(c) REUTERS (SUSANA VERA)
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Studie der Bertelsmann-Stiftung ortet ein Ungleichgewicht innerhalb der EU: Die Folgen der Schulden- und Konjunkturkrise treffen vor allem die Jungen. Das gilt insbesondere für Italien.

Brüssel. Der Befund, dass die soziale Gerechtigkeit in der Europäischen Union unter den krisenbedingten Konvulsionen der vergangenen Jahre gelitten und die Kluft zwischen Nord und Süd vertieft hat, ist anno 2014 nicht unbedingt neu – Daten von Eurostat, OECD und Weltbank weisen nicht erst seit gestern in diese Richtung. Insofern kam es nicht unerwartet, dass die am gestrigen Montag veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung zur Gerechtigkeit innerhalb der EU mit dieser Kernaussage aufwartete. Doch der Bericht der deutschen Ideenschmiede geht weit über diese Erkenntnis hinaus, erkundet die Nebenschauplätze der hartnäckigen Schulden-, Banken- und Konjunkturkrise und weist am Ende eine Überraschung auf: Wenn die Experten der Bertelsmann-Stiftung richtigliegen, dann wird die Last der Krisenbewältigung in Europa alles andere als gerecht verteilt. Während Senioren weitgehend verschont geblieben sind, müssen die jüngeren Generationen die Hauptlast schultern.

Für ihren EU-Gerechtigkeitsindex, der gestern zum ersten Mal präsentiert wurde, trugen die Studienautoren 35Datensätze (etwa zur Arbeitslosigkeit, Kinderbetreuung, erneuerbaren Energie und zum Gesundheitswesen) zusammen, anhand derer sechs Kategorien sozialer Gerechtigkeit erstellt wurden: Armut, Bildung, Arbeitsmarkt, Gesundheit, Generationengerechtigkeit sowie gesellschaftlicher Zusammenhalt. Daraus entstand ein Ranking der sozialen Gerechtigkeit in der EU, das – wenig überraschend – von Schweden, Finnland und Dänemark angeführt wird. Ebenso wenig überraschend: Die drei letzten Plätze belegen die südosteuropäischen Sorgenkinder Rumänien und Bulgarien sowie Griechenland, dessen Lage sich so stark verschlechtert hat wie nirgendwo sonst innerhalb der EU. Österreich rangiert vor Deutschland auf Platz sechs – trotz leichter Verluste gegenüber dem Jahr 2008, das als Referenzpunkt dient.

Doch dieses Nord-Süd-Gefälle ist nur eine Seite der Medaille. Für mindestens ebenso problematisch halten die Studienautoren die Tatsache, dass die Schere zwischen Alt und Jung aufgegangen ist. Am besten sichtbar wird dieser Trend, wenn die Armutsgefährdung nach Altersgruppen aufgeschlüsselt wird: Während der Prozentsatz von Kindern und Jugendlichen knapp über der Armutsgrenze von 26 Prozent 2008 auf zuletzt 28 Prozent gestiegen ist, hat sich der Anteil der über 65-Jährigen im selben Zeitraum von 27,7 Prozent auf 21,7 Prozent verringert.

(C) DiePresse

Dazu beigetragen haben zwei Faktoren: Erstens ist der Anteil der älteren Arbeitnehmer seit dem Ausbruch der Eurokrise gestiegen: von 46,2Prozent im Jahr 2008 auf 48,6Prozent im Vorjahr. Der zweite Faktor ist statistischer Natur, wie Daniel Schraad-Tischler, der bei Bertelsmann das Projekt Gerechtigkeitsindex leitet, gegenüber der „Presse“ erklärt: Nachdem sich in vielen EU-Mitgliedsländern die Einkommensgrenzen nach unten verschoben haben und Senioren in der Regel über ein fixes Einkommen – die Pension – verfügen, hat sich ihr relatives materielles Standing innerhalb der Gesellschaft verbessert. Detail am Rand: Was die Teilhabe älterer Menschen auf dem Arbeitsmarkt anbelangt, liegt Österreich mit 44,9 Prozent deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Dafür gibt es bei der Jugendarbeitslosigkeit Platz zwei – nur Deutschland schneidet besser ab.

Jugendparadies Schweden...

Um die Gerechtigkeit zwischen den Generationen zu untersuchen, haben die Bertelsmann-Experten Familienpolitik, Pensionen, demografische Trends, Staatsverschuldung, Umweltpolitik und Forschungsausgaben der einzelnen EU-Mitglieder in einem Ranking zusammengeführt. Österreich belegt darin den achten Rang, an der Spitze liegen wieder einmal die Skandinavier, Schlusslicht ist Griechenland hinter Italien und Zypern. Spitzenreiter Schweden dient den Studienautoren als Paradebeispiel dafür, dass gute Politik schlechte demografische Rahmenbedingungen ausgleichen kann – denn Schweden ist hinter Italien, Deutschland und Griechenland das „viertälteste“ EU-Mitglied. Diesem Trend wirken jedoch die Anpassung des Pensionssystems an die durchschnittliche Lebenserwartung sowie die Förderung von öffentlicher Kinderbetreuung und Väterkarenz entgegen, so das Fazit der Studie.

...Seniorenschlaraffenland Italien

Am anderen Ende des Spektrums befindet sich Italien, wo Kinderbetreuung innerfamiliär geregelt werden muss, arbeitende Mütter es besonders schwer haben und das Sozialsystem die Pensionisten von heute bevorzugt. Die unter der Ägide von Mario Monti eingeleitete Pensionsreform (die auf eine Kürzung für die jungen Arbeitnehmer hinausläuft) würde das Problem auf längere Sicht verschärfen – vielen Beitragszahlern drohe die Altersarmut, so die Studie. Damit nicht genug: Seit 2008 hat sich die Jugendarbeitslosigkeit nahezu verdoppelt (auf zuletzt 40Prozent), während der Anteil älterer Arbeitnehmer um acht Prozentpunkte auf knapp 43Prozent gestiegen ist.

Dass es die Jungen in Italien weiterhin schwer haben werden, liegt auch an der mit 132,5 Prozent des BIPs besonders hohen Staatsverschuldung – nur um den griechischen Staatshaushalt steht es noch schlimmer – sowie daran, dass Italien mit 1,27 Prozent des BIPs wenig für Forschung und Entwicklung ausgibt. Beim Spitzenreiter Finnland sind es 3,55, in Österreich 2,84 Prozent. Der EU-Durchschnitt beträgt 1,67 Prozent.

Weitere Infos:www.diepresse.com/altjung

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.09.2014)

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