Neue EU-Kommission: Wie die Große Koalition in Brüssel Einzug hält

Juncker, the incoming president of the European Commission, presents the list of the European Commissioners and their jobs for the next five years, during a news conference at the EC headquarters in Brussels
Juncker, the incoming president of the European Commission, presents the list of the European Commissioners and their jobs for the next five years, during a news conference at the EC headquarters in BrusselsREUTERS
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Europäische Volkspartei und Sozialdemokraten kooperieren eng mit Kommissionspräsident Juncker.

Brüssel. Als Karl Kraus davon sprach, Wien sei die „Versuchsstation des Weltuntergangs“, spielte er auf die gesellschaftspolitischen Spannungen in der Donaumonarchie am Vorabend des Ersten Weltkriegs an, die in den Jahren nach 1914 in einem kontinentalen Maßstab wiederkehrten. Diese unfreiwillige Vorreiterrolle hat Österreich auch heute nicht gänzlich eingebüßt, was sich anhand von zwei Phänomenen beobachten lässt, die hierzulande vertraut, auf der europäischen Bühne hingegen ein Novum sind: der Aufstieg des Rechtspopulismus und das Zusammenrücken in der politischen Mitte.

Während großkoalitionäre Reflexe in Wien jahrzehntelang exerziert wurden, müssen sie in Brüssel erst mühsam erlernt werden. Doch dieser Lernprozess vollzieht sich seit der Europawahl am 25. Mai in einem geradezu rasanten Tempo. Wenn die neue EU-Kommission von Jean-Claude Juncker am 3. November – sofern der Zeitplan hält – ihre Arbeit aufnimmt, wird sie dies vor dem Hintergrund einer informellen Großen Koalition zwischen der Europäischen Volkspartei (EVP) und der parlamentarischen Fraktion der Sozialdemokraten (S&D) tun – und zwar mit dem expliziten Auftrag, politischer zu agieren als ihre Vorgängerinnen. Beides ist eine Premiere in der Geschichte der Europäischen Union.

Europapolitische „Fünferbande“...

Dieser Paradigmenwechsel hat drei Gründe. Erstens ist Juncker der erste Kommissionspräsident, der als Spitzenkandidat in den Europawahlkampf gezogen ist – seinen Posten hat er sich mit dem Segen des Europaparlaments, aber gegen den erklärten Willen einiger EU-Hauptstädte erkämpft. Junckers Machtbasis befindet sich also nicht im Rat, dem Gremium der Mitgliedstaaten, sondern im Hohen Haus der Union. Dort wiederum – und das ist der zweite Grund – sind die zwei größten Fraktionen zur Zusammenarbeit verdammt, denn die Mandatsverteilung (konkret der Siegeszug von Populisten aller Couleur) lässt keine plausible Mehrheit außer der Großen Koalition zu.

Zu guter Letzt ist Juncker selbst ein Agent des Wandels. Der Luxemburger Christdemokrat hat in seinem Arbeitsprogramm viele sozialdemokratische Vorschläge aufgegriffen – beispielsweise ein milliardenschweres Investitionsprogramm – und sein Team parteipolitisch austariert. Zu seinem „Vizekanzler“ erkor Juncker den niederländischen Sozialdemokraten Frans Timmermanns, der als Erster Vizepräsident (auch dieses Amt ist eine Novität) dafür sorgen soll, dass die anderen EU-Kommissare keine unnötigen Rechtsvorschriften produzieren. Diese Kooperation dürfte auch nach dem 3. November weitergehen. Wie „Die Presse“ in Erfahrung bringen konnte, soll ein informelles fünfköpfiges Gremium als Schaltzentrale der großen Brüsseler Koalition etabliert werden. Mitglieder dieser „Fünferbande“, die regelmäßig zusammentrifft, um sich abzusprechen, sind Juncker, sein Vize Timmermans, EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD), EVP-Fraktionsvorsitzender Manfred Weber (CSU) sowie sein sozialdemokratisches Gegenüber Gianni Pittella (Italien, PD).

...und gegenseitige Aufpasser

Dieser Ansatz hat den evidenten Vorteil, dass die Gesetzesvorschläge der EU-Kommission künftig besser mit dem Europaparlament abgestimmt werden dürften – Parlament und Rat müssen grünes Licht geben, damit eine Rechtsvorschrift in Kraft tritt. Er birgt allerdings auch Konfliktpotenzial, was am Organigramm der Kommission ersichtlich ist – so wird beispielsweise der sozialdemokratische französische Wirtschaftskommissar, Pierre Moscovici, vom lettischen Kommissionsvizepräsidenten Valdis Dombrovskis „beaufsichtigt“, während Timmermans dem spanischen Christdemokraten Miguel Arias Cañete, der für Energie und Klima zuständig ist, auf die Finger schaut.

Apropos Moscovici und Cañete: Die Hearings der beiden Kandidaten machten die Kehrseite des neuen Modus vivendi anschaulich – die Gefahr eines parteipolitischen Gleichgewichts des Schreckens: Um ihre eigenen Kandidaten zu schützen, gingen die Fraktionen auf die Kandidaten der Gegenseite los – die EVP auf Moscovici, S&D auf Cañete. Die implizite Drohung: wie du mir, so ich dir. Am Ende des Tages wurden beide bestätigt – und das trotz der zuvor lauthals geäußerten Zweifel an ihrer Befähigung. Die Einzige, die tatsächlich auf der Strecke blieb, war die slowenische Anwärterin Alenka Bratušek – doch sie war Mitglied der Liberalen und somit außerhalb des großkoalitionären Nichtangriffspakts. Ihre Nachfolgerin Violeta Bulc muss sich Montagabend den Fragen der Abgeordneten stellen. Mit bösen Überraschungen wird diesmal nicht gerechnet – denn schließlich wollen EVP und S&D am Mittwoch der gesamten Juncker-Kommission ihre Zustimmung geben. Ein Ausscheiden von Bulc würde den Zeitplan durcheinanderbringen.

AUF EINEN BLICK

Die Koordination zwischen EU-Kommission und Parlament findet auch im Rahmen eines informellen fünfköpfigen Gremiums statt, das regelmäßig zusammentrifft. Mitglieder sind EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, sein Stellvertreter Frans Timmermans, EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD), der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber (CSU), sowie sein sozialdemokratischer Kollege Gianni Pittella.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2014)

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