Das Machtzentrum Europas bröckelt

(c) Reuters (Sebastian Pirlet)
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Präsident Barroso bleibt, doch jeder zweite Kommissar geht – ein Teil schon vor der EU-Wahl. Im Kampf um den Chefsessel könnte Barroso bei Reformen und Finanzkrise zurückstecken.

BRÜSSEL. Die EU-Kommission ist Europas wichtigste Schaltzentrale. Sie entwirft Gesetze und schützt den Wettbewerb. Doch noch heuer könnte sie stark geschwächt werden. Denn von den 27 Kommissaren wird ein Großteil nicht mehr der nächsten Kommission angehören. Diese soll im Herbst/Winter 2009 die Geschäfte aufnehmen. Als fix gilt zwar, dass der konservative portugiesische Kommissionspräsident José Barroso das Kollegialorgan weiterhin leiten wird. Anders käme es nur, wenn die Konservativen nicht wieder stärkste Partei bei der EU-Parlamentswahl am 7.Juni werden. Denn dieser steht inoffiziell der Kommissionspräsident zu, bestellt wird er von den Regierungen.

Doch wie sich jetzt abzeichnet, wird vielleicht sogar die Hälfte oder werden mehr Kommissare das jetzige Team Barrosos verlassen, das gilt voraussichtlich auch für die österreichische EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner.

Einige Kommissare könnten sogar schon vor der EU-Wahl am 7.Juni ihre Arbeit an einen anderen Kommissar übergeben, weil sie als Spitzenkandidaten in den EU-Wahlkampf ziehen. Andere werden in die Innenpolitik oder in die Pension wechseln. Gründe sind ein schleppendes Fortkommen in der Kommission, die „falsche“ Partei (die Kommissare werden von ihren Regierungen nominiert) oder das Pensionsalter.

Aus Schlüsselressorts gehen werden dem Vernehmen nach die dänische Agrarkommissarin Mariann Fischer Boel und die polnische Regionalkommissarin Danuta Hübner, die Chefinnen über die größten Budgetposten der EU, die niederländische Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes, die die bisher höchsten Strafen wegen Wettbewerbsbehinderung verhängt hat, der irische Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy, der – spät – den Kampf gegen die Finanzkrise aufgenommen hat, und der deutsche Industriekommissar Günter Verheugen, der zuletzt der Autobranche zu Hilfe eilte.

Wirtschafts- und Währungskommissar Joaquín Almunia soll für einen anderen Spanier Platz machen: den aktuellen „Hohen Vertreter“ Javier Solana, welcher der künftige „EU-Außenminister“ und Vizepräsident der Kommission werden soll, sofern der Lissabon-Reformvertrag in Kraft tritt. Das beträfe auch Ferrero-Waldners Agenden. An ihrer Stelle dürfte Wien Ex-Vizekanzler Wilhelm Molterer (ÖVP) nach Brüssel schicken.

Mit solchen Abgängen droht der Kommission bereits jetzt eine Lähmung. Und das zu Zeiten der schwersten Wirtschaftskrise seit 1945, während die neue US-Regierung, aber auch China, Indien oder Brasilien ihre Kräfte in Politik und Wirtschaft bündeln. Erschwert wird dies dadurch, dass Barroso der Chefsessel trotz allem nicht sicher ist. Um die Zustimmung der EU-Hauptstädte nicht zu gefährden, trete er bei Reformbemühungen lieber auf die Bremse, werfen ihm manche Regierungsmitglieder sogar selbst vor. In der laufenden Amtszeit wurden viele Projekte (noch) nicht zu Ende geführt. Neben dem Kampf gegen die Finanzkrise gilt das für das Klima- und Energiepaket der EU. Die USA sind auf der Überholspur, wenn Präsident Barack Obama mit seinen Klimazielen Ernst macht. Johannes Laitenberger, Sprecher Barrosos, wehrt ab: Gerade beim Klima habe Europa Standards gesetzt.

Sprecher: „Nicht ungewöhnlich“

Personell könnte es einige Wechsel geben, gibt er zu, „ohne dass ich Fälle bestätigen wollte; es wäre auch nicht ungewöhnlich bei einer neuen Kommission“. Unter Insidern als sicher gelten auch die Abgänge des lettischen Energiekommissars Andris Piebalgs, der Schwedin Margot Wallström (zuständig für die Arbeit mit EU-Parlament und -Rat sowie Öffentlichkeitsarbeit) und Budgetkommissarin Dalia Grybauskaite, sollte sie Präsidentin Litauens werden.

Vermutlich ins EU-Parlament wechseln werden die Kommissare Louis Michel (Belgien), Leonard Orban (Rumänien) und Joe Borg (Malta). Auch Vladimír ?pidla (Tschechien), Ján Figel (Slowakei) und Siim Kallas (Estland) müssen sich nach entsprechenden Signalen ihrer Regierungen wohl nach neuen Aufgaben umsehen. Als wenig erfolgreich gilt der ungarische Steuerkommissar László Kovács, auch er könnte wechseln.

Experte Antonio Missiroli vom European Policy Centre sieht in den vielen Abgängen eine Chance für Barroso: „Er könnte einer von ganz wenigen sein, die bleiben, und aus dieser Kontinuität bei den Regierungen an Stärke gewinnen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2009)

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