Lissabon-Vertrag: Mehr Stimmen für die großen EU-Mitglieder

(c) EPA (Robert Ghement)
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Mit dem 1. November tritt im Rat eine neue Stimmgewichtung in Kraft. Berlin, Paris und London gewinnen an Einfluss.

Brüssel. Es ist zwar nur eine prozedurale Änderung, die am 1. November in Kraft tritt, doch ihre Implikationen für den Umgang der EU-Mitglieder miteinander sind nicht zu unterschätzen. Am heutigen Freitag läuft nämlich die fünfjährige Übergangsfrist aus für die im Rahmen des Reformvertrags von Lissabon vereinbarte neue Stimmgewichtung im Rat, dem Gremium der Mitgliedstaaten der Union. Ab morgen werden es die bevölkerungsreichen EU-Mitglieder deutlich einfacher haben, sich in Brüssel Gehör zu verschaffen.

Der am 1. November 2009 in Kraft getretene Lissabon-Vertrag – eine abgespeckte Version der an den Wahlurnen in Frankreich und den Niederlanden gescheiterten EU-Verfassung – sieht vor, dass die meisten Entscheidungen im Rat künftig nach dem Prinzip der sogenannten doppelten Mehrheit getroffen werden. Damit ein Gesetzesvorschlag angenommen wird, müssen fortan 55 Prozent der Mitgliedstaaten (also derzeit mindestens 16 von 28) zustimmen, deren Einwohner mindestens 65 Prozent der gesamten EU-Bevölkerung (mindestens 329 der rund 506 Millionen) ausmachen.

Die ausschlaggebende Änderung gegenüber dem alten System, das 2003 im Vertrag von Nizza fixiert wurde: Bis dato musste ein Gesetzesvorschlag im Rat drei Hürden bewältigen: eine einfache Mehrheit der Mitglieder, mindestens 74 Prozent der insgesamt 352 Stimmen sowie 62 Prozent der EU-Gesamtbevölkerung. Die Krux: Die 352 Stimmen wurden nach einem Schlüssel verteilt, der bevölkerungsreiche Mitglieder benachteiligte: So hatte beispielsweise Deutschland mit seinen 82 Millionen Einwohnern 29 Stimmen im Rat, während das halb so große Spanien über 27 Voten verfügte. Auch Österreich war bisher mit zehn Stimmen bessergestellt.

Widerstand der Mittelgroßen

Mit dem Inkrafttreten der neuen Formel verlieren die kleinen EU-Mitglieder an Einfluss bei der Gesetzgebung (siehe Grafik). Interessanterweise waren es nicht die Kleinen, die den größten Widerstand gegen die Reform an den Tag legten, sondern die mittelgroßen Mitgliedstaaten Spanien und Polen, die bis dato hinsichtlich der Stimmgewichtung mit den großen drei (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) annähernd gleichgestellt waren, nun aber definitiv in die zweite Liga absteigen.

Ihre Zustimmung ließen sich Madrid und Warschau während der zähen Verhandlungen im Jahr 2007 durch zwei Zugeständnisse abkaufen. Erstens bleibt der neue Abstimmungsmodus vorerst beschränkt gültig: Bis 2017 kann nämlich jedes EU-Mitglied verlangen, dass ein Votum im Rat nach den alten Regeln von Nizza durchgeführt wird. Zweites Sicherheitsventil: Nach dem Auslaufen der Übergangsregelung greift die sogenannte Ioannina-Klausel. Sie besagt, das eine Minderheit im Rat, die mindestens 55 Prozent der Sperrminorität erreicht, weitere Verhandlungen über das umstrittene Gesetz erzwingen kann.

Apropos Sperrminorität: Da Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammen mehr als 35 Prozent der EU-Bevölkerung haben, verfügen sie gemäß der neuen Formel theoretisch über ein Vetorecht. Damit die großen drei nicht gegen den Willen der restlichen EU unliebsame Initiativen blockieren können, beinhaltet das Regelwerk von Lissabon einen Passus, wonach mindestens vier Mitgliedstaaten für eine Sperrminorität notwendig sind.
Das Prinzip der doppelten Mehrheit gilt für Entscheidungen im Rahmen des sogenannten ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens, das die meisten inhaltlichen Bereiche in der EU-Gesetzgebung abdeckt – etwa Umwelt- und Verkehrspolitik. Bei heikleren Themen wie Steuer- oder Außenpolitik gilt nach wie vor die Einstimmigkeit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2014)

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