Warum Regionalpolitik auch Weltpolitik ist

Die Staatsgrenzen sind gefallen
Die Staatsgrenzen sind gefallenHelmar Dumbs
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Im Idealfall kann die Zusammenarbeit von Regionen dazu beitragen, den europäischen Zusammenhalt zu stärken.

Brüssel. „Things fall apart, the centre cannot hold; Mere anarchy is loosed upon the world.“ Als der irische Dichter William Butler Yeats diese Zeilen im Jahr 1919 schrieb, stand er ganz unter dem Eindruck des soeben zu Ende gegangenen Ersten Weltkriegs. Die Kriegswirren hinterließen bei vielen Zeitgenossen den Eindruck, den handelnden Personen sei die Kontrolle über die Ereignisse entglitten – sie marschierten wie Schlafwandler in die Katastrophe, um es mit den Worten des australischen Historikers Christopher Clark zu sagen. Doch die daraus gezogenen Lehren führen geradewegs in den Faschismus – und in die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, der halb Europa in ein Trümmerfeld verwandelte.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass das Projekt der europäischen Integration stets eine transnationale Komponente beinhaltete. Viele Proponenten der Integration sahen in der Überwindung des Nationalen ein Heilmittel für den zerschundenen Kontinent – und ein nicht unwichtiger Aspekt dieser Transzendenz war die Aufwertung der Regionen auf Kosten der Hauptstädte. Die Idee eines „Europas der Regionen“ werde in Brüssel als Mittel gesehen, um den Einfluss der nationalen Regierungen zurückzudrängen, stellt etwa David Abulafia, Autor einer 2011 im britischen Verlag Allen Lane erschienenen umfangreichen Geschichte des Mittelmeerraums („The Middle Sea“), fest. Gemäß dieser Lesart fungiert die EU als ein breites Dach, unter das die europäischen Regionen schlüpfen können.
Verschwundene Staaten

Dieser Denkansatz ist insofern interessant, als er zugleich historisch und ahistorisch ist. Geschichtlich begründet ist er, weil Europa ein veritabler Friedhof der Staaten ist. Im geopolitischen Orkus verschwunden ist nicht nur die 1918 kollabierte Donaumonarchie, sondern beispielsweise auch die polnisch-litauische Adelsrepublik, die Kiewer Rus, die Königreiche Burgund und Aragon oder die Tschechoslowakei. Was hingegen Bestand hatte, waren stets die Regionen, aus denen sich diese untergegangenen Staatengebilde zusammengesetzt hatten.

Gehört also die Zukunft tatsächlich den Regionen? So einfach ist die Angelegenheit doch nicht, denn die Proponenten der Regionalisierung hängen überspitzt formuliert einem Weltbild an, wie es der US-Politologe Francis Fukuyama in seinem Buch „Das Ende der Geschichte“ entworfen hat. Demnach hätten freie Marktwirtschaft und Demokratie den endgültigen Sieg im Wettstreit der Ideologien errungen, das Weltgeschehen wäre fortan wie ein langer sonniger Nachmittag ohne nationalistische Störenfriede. Doch mittlerweile hat nicht nur Fukuyama diese These revidiert, sie wurde auch von den Ereignissen widerlegt. Spätestens seit der Annexion der Krim durch Russland müsste allen Beteiligten klar sein, dass Machtpolitik der alten Schule nach wie vor funktioniert. Ein postnationales, auf „Soft Power“ ausgerichtetes Gebilde kann gegen die gewaltsame Grenzverschiebung vergleichsweise wenig ausrichten. In ihrer Haltung gegenüber Russland erinnerte die Europäische Union immer wieder frappierend an das Heilige Reich Deutscher Nation – sie war so schwach wie ihre schwächsten Mitglieder.
Föderalismus als Anker

Ist die EU mit ihrer Förderung der Regionen also einem Trugschluss unterlegen? Die Antwort auf diese Frage ist ein eindeutiges Nein. Denn im Idealfall können Regionen als Kraftzentren für ihre Staaten und für Europa als Ganzes fungieren – sofern die Rahmenbedingungen passen. So ging Deutschland (bzw. das Deutsche Reich) erst 1871 aus dem Zusammenschluss der Mitglieder des bereits angesprochenen Heiligen Reichs unter preußischer Ägide zusammen. Als Nationalstaat ist Deutschland damit annähernd so alt wie Italien, dessen Hauptstadt erst 1870 nach Rom verlegt wurde – bis dahin mussten drei Unabhängigkeitskriege ausgefochten werden. Trotz ähnlicher Grundvoraussetzungen sind die regionalen Zentrifugalkräfte im heutigen Italien deutlich stärker als in Deutschland, wo es keine Partei wie die Lega Nord gibt, die von der Sezession des wohlhabenden Norditaliens träumt.

Unterschied in föderaler Struktur

Der große Unterschied liegt in der föderalen Struktur Deutschlands nach 1945, die als Sicherheitsventil fungiert und es ermöglicht, regionale Identitäten stärker auszuleben, als dies in Italien der Fall ist, wo die Einflussnahme der Hauptstadt Abwehrreaktionen auslöst. Das trifft übrigens auch auf Spanien zu, wo es ebenfalls sezessionistische Bestrebungen gibt.
Schotten und „Chouans“

Kritiker dieses Trends zu regionaler Selbstbestimmung werfen der EU vor, den Sezessionisten den Rücken zu stärken – beim Unabhängigkeitsreferendum in Schottland vor wenigen Monaten war die Frage, ob die neue Nation automatisch Mitglied der EU wäre, von zentraler Bedeutung. Diese Kritik ist allerdings problematisch, denn es sind nicht die Taten der Brüsseler Eurokraten, sondern die Existenz der Union als solche, die Sezessionisten beflügelt. Und die Abschaffung der EU kann keine ernsthafte Lösung des Problems sein – vor allem deswegen nicht, weil es nicht in jedem zentralistisch ausgerichteten EU-Mitglied Zerfallserscheinungen gibt. Frankreich ist das Paradebeispiel eines Zentralstaats, in dem die Hauptstadt das Sagen hat. Trotz der alles andere als zufriedenstellenden wirtschaftlichen Lage gibt es in den besser gestellten Regionen keine Bestrebungen, sich vom Rest des Landes loszusagen. Dass Frankreich von seinen citoyens als großes Ganzes akzeptiert wird, war nicht immer der Fall – noch Napoleon, der die zentralistische Arbeit des Sonnenkönigs Ludwig XIV. fortgeführt hatte, musste mit einer Revolte der bretonischen „Chouans“ fertigwerden.

Wenn es also eine Lehre aus der wechselvollen europäischen Geschichte zu ziehen gibt, dann ist es die, dass regionales und nationales Bewusstsein im Widerstreit stehen können, es aber nicht müssen. Und noch etwas lehrt die Historie: Die Regionen können auch dabei behilflich sein, Grenzen und Barrieren zu überwinden. Ein gutes Beispiel dafür ist der Alpen-Adria-Raum, der Teil jenes von Yeats bejammerten Zerfalls war – vor 1945 eine zusammenhängende Region, nach 1945 ein durch nationale und ideologische Grenzen zerteiltes Gebiet. Dass die Verbindungen im Grenzgebiet zwischen Italien, Österreich, Slowenien und Kroatien heute fast so engmaschig sind wie einst, hat nicht primär mit der EU zu tun, sondern vor allem mit den Bemühungen aller Beteiligten, die durch Krieg und Kommunismus unterbrochenen Verbindungen wiederherzustellen. Regionalpolitik kann also auch Weltpolitik sein.

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