Helmut Kohl: Angst um ein Lebenswerk

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Helmut Kohl ortet Mutlosigkeit und Kleinmut in der EU-Debatte. Die Aufnahme Griechenlands in den Euro sieht er heute als Fehler.

Der ehemalige deutsche Bundeskanzler prangert die europäische Politik und die wachsende Kritik an der Grundkonstruktion der EU an. In seinem Buch „Aus Sorge um Europa – Ein Appell“ beschreibt Helmut Kohl die Diskussion nach Ausbruch der Finanz- und Schuldenkrise als „erschreckend mutlos, erschreckend rückwärtsgewandt, erschreckend unhistorisch“. Die 119 schmalen Seiten sind ein Aufschrei. Kohl, der sein primäres politisches Ziel im Aufbau eines gemeinsamen Europas gesehen hat, sieht heute sein Lebenswerk gefährdet. Nach dem Zweiten Weltkrieg seien sich alle einig gewesen, dass nur ein geeintes Europa die Chance auf dauerhaften Frieden biete. Heute werde fälschlich behauptet, der Krieg sei keine Bedrohung mehr, er reiche nicht aus, die enge Zusammenarbeit der europäischen Staaten zu rechtfertigen.

Man sieht Helmut Kohl fast, wie er in seinem Haus in Oggersheim sitzt, verärgert die Zeitungen durchblättert und sich seine Notizen macht. Sprechen kann der Altbundeskanzler nur noch schlecht, aber schreiben kann er noch. Und so erregt er sich nach langem Schweigen nun in schriftlicher Form umso vehementer über die allzu simplen, aber populistisch wirksamen Lösungsansätze wie über die Trennung in einen Nord- und Südeuro. Nicht nur die selbst ernannten Wirtschaftsexperten oder Leitartikelschreiber, auch die europäischen Regierungen hätten den Blick auf das Ganze verloren. Er schreibt: „Die Fehler, die auf dem Weg des geeinten Europas gemacht wurden und die zu gravierenden Fehlentwicklungen geführt haben, liegen darin, dass der europäische Einigungsprozess nach 1998 nur noch halbherzig und nicht mehr mit der notwendigen Gradlinigkeit und Zielstrebigkeit weitergegangen wurde und dass nach der Einführung des Euro seine Stabilität mehr als leichtfertig aufs Spiel gesetzt wurde.“

Die Aufnahme von Griechenland in die Währungsunion sieht Kohl heute als Fehler. An Warnungen habe es nicht gefehlt. Doch die Fehlentwicklung wurde noch verschärft, da mit seiner Abwahl in Deutschland 1998 die „harte Position“ zur Euro-Stabilität aufgekündigt wurde. „Das hat in Europa und im Euroraum und darüber hinaus auch in Griechenland zu erheblichen Turbulenzen geführt.“

Heute sieht Kohl die Antwort nicht in einem von großer Macht ausgestatteten europäischen Superstaat, aber er appelliert für eine engere politische Zusammenarbeit. „Wir wollen gerade nicht so etwas wie die Vereinigten Staaten von Amerika auf europäischem Boden. Wir wollen ein vereintes, demokratisches, bürgernahes und handlungsfähiges Europa auf föderaler Grundlage.“ Und Kohl spricht sich überraschend klar für Solidarität mit Athen aus. Auch angesichts der politischen Fehler oder gerade wegen dieser dürfe es keine Frage sein, solidarisch zu Griechenland zu stehen. (wb)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.11.2014)

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