20 Jahre Beitritt: EU ist fern und kompliziert geblieben

(c) EPA (Robert Ghement)
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Die EU-Mitgliedschaft polarisiert nach wie vor. Die Bevölkerung glaubt, dass nur Großunternehmen und Studenten profitiert haben. Die Sozialpartner ziehen eine positive Bilanz.

Wien. Um die EU-Mitgliedschaft ist es in der öffentlichen Debatte auch nach zwei Jahrzehnten nicht leise geworden. Sie polarisiert nach wie vor. Zwar gibt es laut einer am Donnerstag veröffentlichten Umfrage der Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) eine klare Mehrheit von 67 Prozent der Bevölkerung, die einen Verbleib in der EU befürworten. Doch gleichzeitig bewertet eine deutliche Mehrheit die Union als „fern“ (59 %) und kompliziert (93 %).

Nach Ansicht der Österreicher haben die verschiedenen Berufsgruppen in den vergangenen 20 Jahren sehr unterschiedlich von der Mitgliedschaft profitiert. Eine Mehrheit von 86 Prozent ist überzeugt, dass große Unternehmen die Gewinner des EU-Beitritts waren. An zweiter Stelle liegen Studierende und Schüler. Eher ausgewogen ist die Ansicht über die Bilanz für Arbeitnehmer und Pensionisten (siehe Grafik). Die größten Nachteile hatten in der Wahrnehmung der Bevölkerung Landwirte sowie kleine und mittlere Unternehmen.

Wirtschaftskammer-Präsident Christoph Leitl sieht Klein- und Mittelbetriebe nicht als Verlierer. „Die sind nicht unter die Räder gekommen.“ 1995, im Jahr des Beitritts, habe es 260.000 Betriebe in Österreich gegeben, heute seien es 480.000. Das spreche Bände. Auch der Präsident der Landwirtschaftskammer, Hermann Schultes, sieht das Schicksal der Bauern differenziert. Vor 20 Jahren habe es mit der Übernahme der EU-Agrarpolitik einen Sprung ins kalte Wasser gegeben. Die Landwirtschaft sei mit allen Folgen aus ihrem geschützten Bereich in Österreich herausgelöst worden. „Wir haben uns dabei aber auch unterschätzt.“ Trotz Strukturwandels hätten viele heimische Agrarbetriebe mit Qualitätsprodukten international gepunktet.

Bild der Erweiterung negativ

Bis auf die Erweiterung sehen die Österreicher die größten politischen Schritte der EU in diesen 20 Jahren positiv. So halten 61 Prozent die Einführung des Euro heute für „sehr positiv“ oder „eher positiv“. Eine knappe Mehrheit von 51 Prozent steht auch hinter der Öffnung der Grenzen und dem Ende der Passkontrollen. Die Erweiterung der EU wird hingegen von einer klaren Mehrheit von 61 Prozent nach wie vor als „eher negativ“ beziehungsweise „sehr negativ“ bewertet. „In der öffentlichen Wahrnehmung wird deutlich, dass es grenzüberschreitende Herausforderungen gibt, die ein Land allein nicht mehr bewältigen kann“, so ÖGfE-Generalsekretär Paul Schmidt. Deshalb stünden die Österreicher letztlich hinter der Mitgliedschaft.

Dass die Bilanz zwar positiv, im Detail aber kritisch ausfällt, machten die Präsidenten der Sozialpartner im Anschluss an die Präsentation der Umfrage deutlich. „Für die Arbeitnehmer gibt es wenig zu feiern“, sagte Arbeiterkammer-Präsident Rudolf Kaske. Er verwies auf die steigende Arbeitslosigkeit in den meisten Unionsstaaten. ÖGB-Präsident Erich Foglar sieht die Übernahme der Gemeinschaftswährung heute allerdings als Garant für Stabilität. Er erinnerte an die Abwertungen europäischer Währungen in den 1990er-Jahren, samt den damit verbundenen Auswirkungen auf Löhne und Arbeitsplätze. „Die EU ist in unsicheren Zeiten ein sicherer Hafen geworden.“ Die Krise habe aber deutlich gemacht, dass es einen Kurswechsel brauche. „Es ist auch eine soziale Integration notwendig“, so Foglar.

WKO-Präsident Leitl zog zwar ebenfalls eine positive Bilanz, sprach aber auch von einem „bürokratischen Mist“, der aus Brüssel kommend die heimischen Betriebe zunehmend belaste. „Das werden wir bekämpfen.“ Als Beispiele nannte er die Wegekostenrichtlinie (Mautregeln) und die Allergen-Verordnung (Ausschilderung von Allergie auslösenden Stoffen auch in Restaurants).

Hat die EU-Mitgliedschaft also der Bevölkerung mehr Vor- oder mehr Nachteile gebracht? Immerhin 49 Prozent der Österreicher sehen laut der ÖGfE-Umfrage die Vorteile überwiegen. 37 Prozent sehen mehr Nachteile.

Auf einen Blick

Die Bilanz der Österreicher nach 20 Jahren EU-Mitgliedschaft ist gemischt: Laut einer Umfrage der Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) halten 57 Prozent den Beitritt nach wie vor für die richtige Entscheidung, 67 Prozent wollen in der EU bleiben: Sie wird als „wirtschaftlich wichtig“ und „friedensstiftend“ gesehen. Jedoch kritisieren 93 Prozent der Österreicher die Komplexität der Union, viele schätzen sie zudem als „fern“ ein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2014)

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