Das Hasardspiel des J.-C. Juncker

EU Commission President Juncker addresses a news conference following a EU leaders summit in Brussels
EU Commission President Juncker addresses a news conference following a EU leaders summit in Brussels(c) REUTERS (FRANCOIS LENOIR)
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Der Kommissionspräsident konzentriert alle Kraft darauf, die EU aus der Krise zu ziehen – mit politischer Schlauheit, Kredithebeln und einer klaren Ausrichtung auf Wirtschaftsinteressen.

Brüssel. „Bei den Regierungschefs darf man nicht mit Bedrohungen, aber mit Druck arbeiten, um etwas in die richtige Richtung zu bringen.“ Jean-Claude Juncker zeigte sich nach dem Ende des EU-Gipfels zufrieden. Mit politischer Schlauheit und Taktik hat er erreicht, was er wollte. Dem Luxemburger ist die Dramatik der aktuellen Wirtschaftsentwicklungen im gemeinsamen Binnenmarkt wohl bewusst. Seine Strategie dagegen ist hochriskant, aber er ist gänzlich überzeugt, dass sie der einzig machbare Weg ist.

Mit der Ära Juncker hat sich in Brüssel viel geändert. Da ist kein Grundrauschen an politischen Aktivitäten mehr zu hören wie unter der Barroso-Kommission, da spielt Rock'n'Roll. Sein ehemaliger Kontrahent bei den Europawahlen, Martin Schulz, streut dem Luxemburger Rosen. „Er glaubt wirklich an seine Strategie.“ Abwarten geht da nicht mehr. Das festgefahrene, in Selbstmitleid verharrende europäische Finanz- und Wirtschaftssystem muss wieder mobilgemacht werden.

Juncker hat es zuwege gebracht, mit acht Milliarden Euro an realem Geld aus dem EU-Budget, mithilfe von Garantien und mit zusätzlichen Mitteln der Europäischen Investitionsbank ein Paket von 21 Milliarden Euro aufzustellen, das durch Beteiligung Privater Investitionen von 315 Milliarden Euro auslösen soll. Diese Konstruktion erscheint wie der Turmbau zu Babel, nur hoffen und wollen alle rundum, dass sie hält. Weil er um die Risken weiß, hat Juncker den Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel eine Rutsche in seinen neuen Strategischen Investitionsfonds (EFSI) gelegt. Wenn sich Staaten mit öffentlichen Mitteln an der Initialzündung für die Wiederbelebung der europäischen Wirtschaft beteiligen, sollen ihre Anteile nicht in das von der EU-Kommission kontrollierte maximale Defizit von drei Prozent des BIPs eingerechnet werden.

Unglaublich, aber wahr: Auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat leise und unauffällig ihren Segen dazu gegeben, dass erstmals seit Beschluss des Stabilitätspakts die Tür für „neutralisierte“ Schulden aufgemacht wird. Das Risiko ausufernder Staatshaushalte ist für den Moment zweitrangig. Juncker braucht für seinen „Hebel“ zugunsten der Wirtschaft alle im Boot – und es ist ihm gelungen, von Matteo Renzi bis Merkel alle einzubinden. Seine Argumentation ist schlicht und verständlich. Vor der Krise wurden jährlich um über 400 Milliarden Euro mehr in der EU investiert als heute. Die finanzielle Dynamik, der Antrieb für Wachstum und Beschäftigung erlahmen zunehmend. Die Folgen sind ein Einbrechen der Nachfrage, der Produktion, weniger Arbeitsplätze und eine Reduzierung des Wohlstands.

Ein großkoalitionäres Netz

Jean-Claude Juncker setzt in seinem Hasardspiel auf wenige Karten. Ein Schub für Investitionen durch billiges Geld, aber auch bessere Rahmenbedingungen sollen den Optimismus in die Unternehmen zurückbringen. Andere politische Vorhaben, die an ihn herangetragen werden, wehrt er mit unverbindlichen Zusagen vorerst ab. Nachhaltigkeit, die er vor seiner Wahl den EU-Parlamentariern noch glaubwürdig versprochen hat, ist jetzt kein Thema mehr für ihn. „Er macht nun das Gegenteil“, kritisiert die grüne EU-Abgeordnete Ulrike Lunacek.

Für die Umsetzung seines Plans hat er sich ein persönliches Netzwerk aufgebaut. Es ist effizient, obwohl es großkoalitionär ausgerichtet ist. Eines der herausragendsten politischen Talente bei den Sozialdemokraten, den Niederländer Frans Timmermans, hat er zu seinem Vizepräsidenten und engsten Vertrauten gemacht. Regelmäßig stimmt sich Juncker in einer kleinen Gruppe mit den mächtigsten und ihm gesonnenen Vertretern des Europaparlaments ab: mit dem Vorsitzenden der EVP-Fraktion, Manfred Weber (CSU), dem sozialdemokratischen Fraktionschef, Gianni Pittella (PD), und mit Parlamentspräsident Schulz. So hat er den Rücken frei für sein Handeln und eine Mehrheit im Parlament hinter sich.

Helmut Kohl hat Juncker einst „Junior“ genannt und ihn als einen der geschicktesten Nachwuchspolitiker bezeichnet. Das war in den 1990er-Jahren. Heute ist der Luxemburger 60 und kennt alle Tricks des politischen Geschäfts. Um seinen Plan zu verwirklichen, wehrt er geschickt jedes Störfeuer ab, auch wenn es noch so wohlgemeint ist. „Er ist ein politisches Schlitzohr“, sagt die österreichische EU-Abgeordnete Evelyn Regner (SPÖ) nicht ohne Respekt. Als er wegen der Steuerpraktiken in seiner Heimat angegriffen wurde, reagierte er rasch und versprach allen politischen Gegnern, was sie hören wollten: Aufklärung, die Entwicklung einer neuen EU-Regel für Unternehmenssteuern und Steuerpflicht im Land des Gewinns. Juncker weiß, dass vieles davon kaum realisierbar ist, weil einige Mitgliedstaaten dagegen Sturm laufen werden. Aber er hat sich mit diesen Willenserklärungen wieder Freiraum für sein eigentliches Ziel verschafft.

Der ehemalige Luxemburger Ministerpräsident will – wie einst in seinem eigenen Land – nun auch auf europäischer Ebene die großen Unternehmen bei Laune halten. Vergangene Woche rundete er seine Signale an die Wirtschaft mit einer weiteren Ankündigung ab. Er will 83 Gesetzesvorschläge streichen lassen. Es geht um Regeln zur Kreislaufwirtschaft (Recycling), aber auch um soziale Rechte wie Mindeststandards für schwangere Arbeitnehmerinnen. Als ein Chor der Entrüstung losbrach, ließ er über seinen Vizepräsidenten Timmermans ausrichten, dass es ja nur darum gehe, irgendwann einmal bessere Vorschläge zu entwickeln. Die Industrie, von der diese Streichungswünsche kamen, hat das Signal hingegen verstanden. Der neue Kommissionspräsident will den Unternehmen auch durch Streichung von solchen Regeln ein attraktiveres Umfeld schaffen. Und vor allem will er eines: den Optimismus zurückkehren lassen.

In Wirklichkeit, so assistierte Parlamentspräsident Schulz seinem „Freund“ Juncker, gehe es ihm ja nicht um Geld, es gehe um den „psychologischen Effekt“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.12.2014)

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